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Vorurteilsforscher Wolfgang Benz über Antisemitismus & Islamfeindlichkeit – Folge 358

Wir sind zu Gast in einem kleinen Büro an der Technischen Universität zu Berlin. Wolfgang Benz hat sich ihr eingerichtet, nachdem er 2011 die Leitung des renommierten Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU abgeben hatte. Wolfgang ist ein international anerkannter Antisemitismus- und Vorurteilsforscher sowie NS-Historiker. Er hat von 1990 bis 2011 an der TU gelehrt, zuvor in der ganzen Welt.

Im Interview geht es natürlich zunächst um seinen Werdegang: Was Wolfgang studiert? Wie ist er zur Antisemitismusforschung gekommen? Wo hat er alles unterrichtet?

Dann klären wir, wie und wann der Begriff Antisemitismus entstanden ist und was ihn vom Antijudaismus unterscheidet. Wir reden über Zionismus, Antizionismus, Philosemitismus und Semiten. Dann geht’s um den Judenhass in Deutschland: Gibt es mittlerweile einen neuen Antisemitismus? Warum nicht? Warum hat Deutschland es geschafft mit Antisemitismus so umzugehen, wie kein anderes Land auf der Welt? Was hat „Israelkritik“ mit Antisemitismus zu tun? Warum heißt es überhaupt „Israelkritik“? Sollten sich insbesondere Deutsche mit Kritik an der israelischen Politik zurückhalten?

Schließlich geht’s um die historischen Parallen von Antisemitismus und der heutigen „Islamkritik“. Welche Argumente gegen(über) Muslime wurden früher gegen(über) Juden vorgebracht? Warum sprechen wir vom „christlich jüdischen Abendland“? Warum kann man in Deutschland nicht straffrei gegen Juden hetzen, aber straffrei gegen Muslime, Sinti und Roma hetzen? Außerdem: Werden Menschen immer Vorurteile haben? Haben Minderheiten auch Vorurteile gegenüber Mehrheiten?

Das und vieles, vieles mehr in der 358. Folge – wir haben sie am 22. Februar 2018 in Berlin aufgenommen.

 

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Transkript (von Carolin Trauter):

Tilo Jung Eine neue Folge Jung & Naiv. Wir sind in Berlin. Wo genau?

Wolfgang Benz: Am Ernst-Reuter-Platz 7.

Und wer bist du?

Ich bin Wolfgang Benz, uralt wie man sieht. Hochschullehrer – Universitätsprofessor – im Ruhestand. 77 Jahre alt. Immer noch ganz munter, immer noch im Geschäft, einfach weil ich nichts anderes gelernt habe als Interviews geben, Vorlesungen halten, Bücher schreiben.

Das macht Dir einfach alles Spaß.

Natürlich macht das Spaß und macht viel mehr Spaß, als wenn man zu Hause sitzen und warten würde, bis die Krokusse endlich kommen. Oder, dass man sich über Nachbars Hund ärgern darf oder was halt so Beschäftigung von Rentnern normalerweise ist.

Jetzt sitzen wir hier im Zentrum für Antisemitismusforschung.

Das habe ich bis vor einigen Jahren geleitet. Es ist das einzige universitäre Institut, das sich der Erforschung des Phänomens Antisemitismus widmet – und zwar weltweit. Alle anderen Institute, die natürlich auch über Antisemitismus forschen, schreiben dann auch jüdische Studien oder machen dies und das und unter anderem auch Antisemitismus. Aber dieses Institut, 1982 gegründet, mitten in Berlin, sollte dazu dienen, dass Antisemitismus nicht nur gründlich erforscht, sondern auch bekämpft wird damit, in der Hoffnung, dass er irgendwann verschwinden möge.

Ist das realistisch?

Das ist natürlich nicht realistisch. Und das wussten natürlich alle. Aber heute würde man sagen ›ein Zeichen musste gesetzt werden‹. Damals gab es auch einen ganz konkreten Anlass. Es gab einen tüchtigen Mann, einen Holocaust-Überlebenden, er hieß Joseph Wulf, der hat Jahre seines Lebens dazu verwendet, um aus der Wannsee-Villa, in der 1942 diese berüchtigte Konferenz über den Holocaust stattfand, eine Dokumentations- bzw. Gedenkstätte zu machen. Das war in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren. Kein Mensch wollte damals dort diese Gedenkstätte haben. Das Haus – eine schöne Villa – wurde auch gebraucht als Schullandheim für Neuköllner Schüler. Also das war alles ganz sinnvoll und dann sagte man – und da waren sich einig der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und später des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Präsident der Technischen Universität –, dass man nicht eine weitere Gedenkstätte brauche, aber ein Forschungsinstitut, das auch Pädagogik treibt und diesem leidigen Problem Antisemitismus gründlich zu Leibe geht und nach Möglichkeit mit Stumpf und Stiel bearbeitet. Das war die Geburtsstunde. Und deshalb hat man 1982 dieses Institut, dessen Leitung ich dann 1990 übernehmen durfte, gegründet. Die Ironie wollte, dass ich zehn Jahre später, 1992, Gast sein durfte, bei der Einweihung des Hauses der Wannsee-Konferenz als einer Gedenkstätte.

Kommen wir nochmal ganz kurz zu Dir und Deinem Werdegang. Wolltest Du – keine Ahnung ob Du Abi gemacht hast – nach dem Abi Antisemitismusforscher werden?

Dass ich Abi gemacht habe, das ist eines der großen Wunder, denn niemand hat das so richtig geglaubt. Und ich weiß auch nicht ob ich jetzt unbedingt meinen Notendurchschnitt vor der Kamera offenbaren soll. Gut, ist schon passiert: mit 4,0 ungefähr habe ich das Gymnasium verlassen. Die Bräuche waren damals noch nicht so streng. Wenn ich Medizin hätte studieren wollen – was der einzige und dringende Wunsch meines Vaters war, der mir seine Landarztpraxis vererben wollte, der auch nicht Fantasie genug hatte sich vorzustellen, dass es außer dem Beruf des Kassenarztes noch irgendeine andere lohnende Beschäftigung auf dieser Welt gibt –, hätte ich einfach länger warten müssen. Aber ich wollte Journalist werden, was eigentlich als familiäre Katastrophe bezeichnet wurde. –– Ja, ja jetzt schau nicht so furchtbar verzweifelt. Damals hielt man Journalisten grundsätzlich für verkrachte Existenzen. Wer durchs Examen fiel, naja der ging halt zur Zeitung: ›Lesen und Schreiben konnte er ja.‹ Das waren die bürgerlichen Vorstellungen, die man da vor 60, 70, 80 Jahren hatte. Die Vorstellung, dass ich Journalist werde, fand also mein Vater ganz grauenhaft. Ich habe dann zu studieren begonnen, alles Mögliche: Geschichte und Kunstgeschichte, und vorderasiatische Archäologie und Musikwissenschaft. Und ein bisschen Philosophie – da habe ich aber sehr schnell bemerkt, dazu bin ich zu blöd.

Aber nicht alles auf einmal?

Ja, ja. Man hat hier was belegt und dort etwas. Das war 1960, als ich zu studieren begann. Da hat man sich sein Menü selbst zusammengestellt. Und wenn man nicht auf Studienrat studiert hatte, dann gab es da überhaupt keine Vorschriften. Drei Prüfungen habe ich eigentlich nur gemacht. Führerschein – das war die erste –, Abitur und dann das Rigorosum. Das gab es damals noch in der Universität München. Wenn man also promovierte, den Doktortitel erwerben wollte, wurde man noch richtig geprüft mit Stoff und allem. Sonst habe ich nie eine Prüfung gehabt. Zwischenprüfung? Gab es nicht.

Also keine Semesterabschlussprüfungen, was unsere Zuschauer jetzt heute kennen?

Das gab es überhaupt nicht. Es gab noch nicht einmal den Magister, der inzwischen wieder abgeschafft ist und für die meisten Zuschauer wahrscheinlich auch nur eine ferne, verblasste Kunde ist. Den Magister gab es noch nicht. Wenn man also an der Philosophischen Fakultät irgendetwas – Deutsch oder Englisch oder Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft – studiert hat, und nicht die Absicht hatte, das in der Karriere des Studienrates münden zu lassen, gab es keine Abschlussvoraussetzungen. Sondern man hat dann entweder nach acht oder zehn oder zwölf oder 15 Semestern oder noch mehr promoviert, wurde also dann mit dem Doktorhut ausgestattet. Oder aber, man war für den Rest seines Lebens ein verkrachter Student und wurde dann, wie schon bemerkt, eventuell Journalist.

Hast Du Dich denn mit dem Doktorhut ausgestattet?

Ja natürlich. Ich würde hier nicht sitzen ohne diesen Doktorhut. Das war also der einzig mögliche Abschluss.

Aber was für ein Doktor war das?

Ich habe einen Doktor der Philosophie, weil sich das ja nach der Fakultät richtet. Also der Historiker hat genauso wie der Literaturwissenschaftler den Doktor phil., den Doktor der philosophischen Fakultäten.

Ist natürlich lustig, Du sagst Philosophie, da warst Du zu doof für, aber jetzt hast Du den Doktor der Philosophie.

Ja ja, so ergeben sich hier manchmal wunderbare Situationen im menschlichen Leben. Also mein Hauptfach war dann Bayrische Landesgeschichte. – Es darf wieder gelacht werden – und Nebenfach Neue Geschichte und Politische Wissenschaften. Ich habe auch für ungefähr zehn Semester Kunstgeschichte als Nebenfach studiert. Aber ohne weiteren Erfolg, denn die Kunstgeschichtler, die sind ein eigenes Volk. Die verachten Leute, die das nur im Nebenfach studieren zutiefst; das muss man im Hauptfach studieren, sonst ist man ein Mensch zweiter oder dritter Klasse.

Da sind wir wieder bei Vorurteilen.

Ja. Das ist so gesetzt. Und dass ich dann bei der Bayerischen Landesgeschichte, die ein eigenes Fach ist, gelandet bin, das hing einfach mit dem Zustand der Münchner Universität in den 60er-Jahren zusammen. Im Fach Neuere Geschichte gab es einen Professor, der war hochberühmt, sehr gelehrt und der hielt eine große Vorlesung über das 19. Jahrhundert. Jahraus, jahrein. Die war im größten Hörsaal. Da kamen die Damen aus der Stadt, das war ein Erlebnis. Der konnte auch wunderbar erzählen.

Wie hieß der?

Wer das war? Die Älteren wüssten jetzt schon, wer das nur sein kann. Das war Professor Franz Schnabl, ein bedeutender Gelehrter. Den hat aber nur noch interessiert, wie er in seiner Vorlesung vom 19. Jahrhundert erzählt. Er wollte nicht mehr prüfen, er hat keine Staatsexamina abgenommen, auch Seminare wollte er nicht mehr gerne halten. Die Seminarbibliothek war ihm so egal – als das letzte Buch von den Studis gestohlen war, ging es halt nicht mehr weiter, war die Sache vorbei. Aber nach damaligem Recht gab es keine Altersbegrenzung, der konnte selbst bestimmen wann er aufhört. Er wollte aber nicht aufhören, er war nicht verheiratet, zwei alte Schwestern haben ihm den Haushalt geführt – das war vielleicht ein Grund dafür, dass er lieber weiter an der Universität blieb. Der nahm also keine Doktoranden mehr an. Als Ausweg gab es dann Osteuropäische Geschichte, da hätte ich aber noch eine osteuropäische Sprache lernen müssen. Ich war aber berufstätig zu dieser Zeit, als ich dann den Abschluss brauchte. Dann gab es nur noch die Möglichkeit zum Ordinarius für Bayerische Landesgeschichte zu gehen. Der war Mediävist, also Spezialist für das Mittelalter, aber das Fach Bayerische Landesgeschichte geht vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart und er war aufgeschlossen. Also habe ich 1968/69 an der Universität in München zum Doktor der Philosophie im Fach Bayerische Landesgeschichte promoviert und sogleich den Entschluss gefasst, niemals an die Universität zu gehen, also mein Geld niemals an der Universität zu verdienen, weil ich das System doch etwas altmodisch und abscheulich fand.

Eigentlich bin ich ja hierher gekommen, um mit Dir über das Thema Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Mehrheiten, Minderheiten zu reden. Aber wenn ich jetzt spontan höre »Bayerische Landesgeschichte«, da könnten wir bestimmt allein eine Stunde darüber reden, gerade noch in der heutigen Zeit. Ist das immer noch ein spannendes Thema?

Ja natürlich ist es das. Aber das hängt natürlich auch von den jeweiligen Interessen ab. Mich hat natürlich das Mittelalter nie interessiert. Mich hat auch die Frühe Neuzeit nicht interessiert. Aber ich hatte die Möglichkeit über die Weimarer Republik im Fach Bayerische Landesgeschichte mit einem verfassungsgeschichtlichen Thema zu arbeiten. Das hat mich interessiert, das war gut. Sonst, auf Dauer, wäre mir Bayerische Landesgeschichte zu eng gewesen. Denn mein Ziel war von allem Anfang an Zeitgeschichte, also der Nationalsozialismus und die Folgen oder auch die Vorgeschichte. Das war mein Thema und mein Interesse, und dem habe ich mich dann auch gewidmet.

Die 60er waren ja eine interessante Zeit. Also der Zweite Weltkrieg war schon 15 Jahre vorbei. Dann kam erst langsam – also soweit ich gelernt habe – die Aufarbeitung hat erst angefangen, die ersten großen Prozesse in Frankfurt kamen zustande… Dann hast Du das damals aktiv miterlebt als junger Mensch und hast Dich gefragt: ›Sag mal, was haben unsere Eltern da gemacht?‹

Natürlich habe ich das miterlebt, das hat mich von der Schule her geprägt. Kurz vor dem Abitur gab es die Synagogenschmierereien in Köln. Auch längst graue Geschichte. Weihnachten 1959 haben Missetäter an die Synagoge in Köln Hakenkreuze gemalt und »Juden raus« geschrieben. Und es hat sich eine Welle, die über Deutschland nach Frankreich schwappte, daraus ergeben, mit Nachfolgetaten. Und das hat schon dazu geführt, dass ich dann, als ich zwei Monate später ins Abitur kam, mit einem Ukas des baden-württembergischen Kultusministers konfrontiert war: ›Jeder Schüler wird über Nationalsozialismus geprüft.‹ Den hatten wir zwar im Unterricht nicht so richtig gehabt, sondern erst in den letzten sechs Wochen. Dafür fiel Englisch aus, deshalb ist mein Englisch auch so grauenhaft schlecht. – Also man hat da ganz schnell noch ein bisschen etwas nachgeholt, weil einen die Geschichte überrumpelt hat. Und ich muss natürlich jetzt verraten, mit was ich berufstätig war seit meinem 5. Semester. Ich hatte das unwahrscheinliche, das sagenhafte Glück, dass eine Stelle für eine studentische Hilfskraft im Institut für Zeitgeschichte in München angeboten war und dass ich die gekriegt habe. Jetzt saß ich sozusagen im Heiligen Gral dieses Faches, dass mein Fach war. Also der Hans im Glück ist sozusagen eher zweite Wahl gegenüber dem, was ich dann so empfunden habe. Ich war zwar dann vom 5. Semester an praktisch nicht mehr in der Uni zu sehen, weil ich da schon ganz schlicht  – nicht nach den heutigen Bedingungen nach denen studentische Hilfskräfte bezahlt werden – malochen musste. Das war also eine 38-Stundenwoche, das ging durch. Aber – dafür jetzt bitte alle Studis weghören –, das war damals dann auch noch möglich. Ich habe mich als studentische Hilfskraft im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München abgemüht, in der Hoffnung, dass ich dort anschließend eine Referentenstelle kriege und die hatte ich dann mit 27 oder 28 Jahren unbefristet. Also das hat sich dann gelohnt. Und ganz selbstverständlich war man ja dann ganz nahe dran an Sachen wie dem Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem, die Auschwitz-Prozesse. Das hat man schon mit allen Sinnen wahrgenommen, weil es einen fachlich unmittelbar betroffen hat.

Ich habe von anderen Gästen bei Jung & Naiv gelernt, dass die auch Nazis als Hochschullehrer hatten, also Professoren. Gab es das bei Dir auch?

Das war nicht bemerkbar. Von einem überaus freundlichen Historiker wusste man es, dass er wohl sehr regimenahe gewesen ist, aber zu dem wollte ich ohnehin nicht. Dass mein Doktorvater ein Nazi –  vorübergehend, als junger Studienassessor, ehe er eine weitere Karriere machte, – der NSDAP beigetreten war, das hat man als Waffe gegen mich vor fünf, sechs, sieben Jahren ausgeschlachtet. Ja, das war so im öffentlichen Gespräch in einer Kampagne gegen mich, den alten Professor: ›Ja, wenn der bei einem Professor studiert hat, der Nazi war, ist doch ganz klar, dass der auch ein Nazi sein muss.‹ Also so blöd kann man sein oder so blöd kann man es versuchen.

– Das gab es nicht. Ich habe mich in Kiel einmal für ein Semester mit Nordischer Archäologie beschäftigt und da gab es einen Privatdozenten, der jeden Samstag eine Exkursion veranstaltet hat. Jeden Samstag fuhr man, um irgendwelche nordischen Bronzeschwerter abzuzeichnen, und bei dem wusste man: das war ein böser Nazi gewesen. Deshalb war er auch kein Professor, sondern schon in weit fortgeschrittenen Jahren immer noch Privatdozent. Aber von Äußerungen, von Propaganda, von irgendetwas war an keiner Universität an der ich studiert habe die Rede. 

Warst Du denn Teil der 68er-Bewegung, wenn Du sagst, Du hast ’68/’69 dein Studium beendet, wurdest Doktor. Warst Du denn auch einer der Jungen Wilden?

Nein überhaupt nicht. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um mich aus einem sehr konservativen Elternhaus zu emanzipieren, lange. Also inzwischen gelte ich, glaube ich, als einer der letzten noch lebenden Fossilien der 68er-Bewegung, aber ich habe nie aktiv daran teilgenommen. Ich hatte nämlich schlicht keine Zeit. Ich habe durchaus sympathisiert und fand das sehr richtig und gut und notwendig, was die taten. Aber ich war ja nun einerseits mit meinem Job im Institut für Zeitgeschichte beschäftigt, da gab es keinen Urlaub und es war schon sehr schwierig mit einem Chef, der kein Verständnis dafür hatte, so ein bisschen Urlaub zu ertrotzen, dass ich ins Archiv konnte, um an meiner Dissertation zu arbeiten. Also es war einfach keine Luft. Ich bin dann eher anschließend, als es schon ziemlich vorbei war, immer stärker damit konfrontiert worden.

’68/’69 bist Du dann in München als Referent gewesen. Und wie lange? 20, 30 Jahre, bis Du dann das Forschungsinstitut übernommen hast?

Ich bin von 1968 bis 1990 wissenschaftlicher Referent am Institut für Zeitgeschichte gewesen, hatte zwischendrin auch schon einmal eine Gastprofessur in Australien und eine in Frankreich. Und als ich von dieser Gastprofessur zurückkam, war mir auch klar: nur forschen, nur am Schreibtisch sitzen, das bringt’s nicht. Man muss lehren, einfach weil einen die Studis auf Gedanken bringen, auf die man nicht kommt, wenn man nur an seinem Schreibtisch oder im Archiv forscht. Also für Fragestellungen braucht es die nächste Generation. Und deshalb habe ich mich, entgegen meinem ursprünglichen Schwur nichts an der Universität zu machen, dann doch um einen Lehrauftrag an der Technischen Universität in München bemüht. Und das hat mir sehr viel Spaß gemacht, einen Tag in der Woche dort tätig zu sein. Das waren aber auch besondere Bedingungen. Das waren junge Leute, die im Hauptfach irgendwas Vernünftiges studiert haben. Maschinenbau, Ernährungslehre, Gartenbau – was man halt so an einer Technischen Universität studiert –, die aber Berufsschullehrer werden wollten und deshalb als Nebenfach Politische Weltkunde oder Sozialkunde, oder wie auch immer dieses Fach dann jeweils hieß, belegen mussten. Und dazu brauchte man einen Historiker, der etwas über das 20. Jahrhundert, den Nationalsozialismus, Deutschland unter Alliierter Besatzung erzählt. Und das war ich.

Wer jetzt aufgepasst hat, hat gehört, dass Du vorhin gesagt hast, Dein Englisch ist sauschlecht. Trotzdem warst Du in Australien. Wie hast Du das denn gemacht?

Naja, man muss sich natürlich Mühe geben. Und Australien ist da natürlich einerseits ein besonders gutes Pflaster. Da hatte ich einen Studenten, der sagte, ich würde das beste Englisch sprechen, das er je gehört habe, das könne er so gut verstehen. Der kam von den Fidschi-Inseln. Also der hat ungefähr ähnlich grausam wahrscheinlich intoniert, wie ich. Aber wenn man was machen muss, kann man das natürlich auch, muss man das können. Das bedeutet halt, auf die Vorlesung muss man sich dann schon etwas gründlicher vorbereiten, wenn man die in Englisch hält, als wenn man das in seiner Muttersprache tut. Und im Seminar kann es dann unter Umständen auch schwierig sein, insbesondere in Australien. Wenn die ihren einheimischen Dialekt – Strine nennt man das, das ist eine Kontraktion von Australian – sprechen, da muss man dann schon sehr lauschen, ob man da irgendetwas für eine Antwort Verwertbares in der Frage findet.

Sind alle Studenten gleich oder waren die australischen anders als dann die französischen oder Deine deutschen Studenten?

Ja, ja die sind natürlich alle ganz ganz anders. Die australischen waren unglaublich entspannt und es war sehr angenehm, da die auch in einem ungemein lockeren Verhältnis mit dem Lehrpersonal standen und umgingen. Also das war sehr angenehm. Das war auch ein sehr gemischtes Publikum. Mein ältester Student in Australien war ein deutscher Emigrant, der unter der Hitlerzeit emigriert ist. Und wenn ich jetzt irgendwie mal wieder einen furchtbaren Aussprachefehler machte, tönte aus dem Publikum: »Wolfgang, das heißt nicht so, das heißt so!« Und in Frankreich waren die Studierenden natürlich ganz furchtbar auf Leistung gedrillt. Als ich dann in Berlin ankam, im Herbst 1990, da bin ich ja dann auf ein gemischtes Publikum gestoßen. Das waren Westberliner Studis, die habe ich an der lässigen Haltung erkannt. Und auch dass sie meiner Aufforderung, zu widersprechen oder gleich zu fragen, wenn ich mich unverständlich ausgedrückt habe, sofort unmittelbar nachkamen. Die anderen waren Studenten aus der soeben zu Ende gehenden Deutschen Demokratischen Republik. Die waren erstens daran erkennbar, dass sie alles mitschrieben wie die Weltmeister. Dass sie zum zweiten, wenn sie sich schon einmal äußerten, was sie lieber in den Pausen taten als in der Vollversammlung, berlinert haben, also Berlinischen Dialekt sprachen, was die Westberliner, die ja eher aus Württemberg oder aus Hessen oder Hamburg kamen, gar nicht konnten. Und die westdeutschen Studis waren ja eigentlich so erzogen, in Frage zu stellen, zu zweifeln, kritisch zu sein, also auch das vom Professor geäußerte Wort auf den Prüfstand zu stellen. Wohingegen die Studierenden aus der DDR, die kamen dann hinterher und sagten, ich hätte doch jetzt das gesagt, sie hätten aber vorher immer gehört, dass es so gewesen sei. Was denn jetzt richtig sei. – Also richtig und falsch waren da Kategorien. Soviel zum Unterschied, zur unterschiedlichen Wahrnehmung von Studierenden.

Jetzt sind wir bei der DDR und der BRD. Gab es unterschiedliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus, des Holocaust in der DDR und in der BRD?

Naja, der Holocaust spielte in der DDR keine so große Rolle. Die DDR hat sich ja dadurch legitimiert, dass es ein antifaschistischer Staat ist, der auf dem kommunistischen Widerstand gegen den Hitlerstaat basiert. Juden haben da eine ganz geringe Rolle gespielt. Man hat sich weniger für Opfer interessiert, als für Helden und Märtyrer. Und das waren die Kommunisten. Zum Zweiten gab es ja auch kaum Juden in der DDR. Als die DDR am Ende war, gab es, glaube ich, 350 oder 400 Juden in der ganzen Republik. In der BRD gab es ja auch nicht so schrecklich viele, aber doch erheblich mehr. Also das war weniger Thema. Und was man also bis zum Überdruss natürlich immer hören musste, das waren die Nachwirkungen der Parteipropaganda: ›Wir sind ein Staat , in dem es nur geläuterte Antifaschisten gibt. Die Faschisten, die sitzen da drüben.‹ – Und dann kam unweigerlich Glopke. Als sei Glopke der allererste Übeltäter und Erfinder des Nationalsozialismus überhaupt gewesen. Das hat auch überhaupt keinen Sinn gehabt, wenn man sagte: ›Guter Freund, der Glopke war nicht mal in der NSDAP.‹ Also das war ein Schönheitsfehler. Der hätte nicht engster Mitarbeiter des westdeutschen Bundeskanzlers sein sollen, gar keine Frage. Aber der Riesennazi war der nicht. – Also das war das gespaltene Bewusstsein. Man glaubte sich auch in der DDR moralisch besser legitimiert als in der kapitalistischen BRD. Soviel zum Standpunkt der Aufarbeitung. Und sonst war man sich halt entsetzlich fremd. Nationalsozialismus war aus dem Blickwinkel der DDR zum Teil eine andere Geschichte als aus dem westdeutschen. Wenn wir in Westdeutschland von früh an die Geschwister Scholl – heute am 22. Februar war der erste Prozess und die erste Hinrichtung – das waren für uns Vorbildgestalten. In der DDR wurde die Herbert-Baum-Gruppe – junge Kommunisten im Widerstand – verehrt. Von denen hatte man im Westen eigentlich nie etwas gehört. Als man dann, spät genug, in den 80ern von der Herbert-Baum-Gruppe hörte, da war gleich klar: das sind ja Juden, das ist ja jüdischer Widerstand! In der DDR hat man die Eigenschaft, dass sie zum Großteil jüdisch waren, unterschlagen. In der BRD hat man dafür unterschlagen, dass sie Kommunisten waren und sie dann als jüdische Heldengestalten verehren wollen.

Ich will mal noch ein bisschen weiter zurückgehen, weil mich interessiert, ob es quasi so eine Art Antisemitismusforschung auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg, vor den Nazis, gab. Ich denke mal den Judenhass, den gab es wahrscheinlich schon hunderte Jahre lang, aber gab es auch diesen Begriff Antisemitismus schon im 19. Jahrhundert oder im 20. Jahrhundert und gab es Menschen, die da sensibel waren?

Also. Wie lange hast Du Zeit?

Solange Du willst.

Jetzt kommt die große Vorlesung: Das Wort Antisemitismus ist 1879 in Gebrauch gekommen. Von einer wirklich verkrachten Existenz, einem Journalisten, einem Publizisten, einem Schreiber namens Marr. Man muss sich den nicht merken, der hat weiter keine Verdienste. Die Judenfeindschaft ist natürlich uralt, geht auf die Entstehung des Christentums zurück. Das ist aber nicht Antisemitismus, das nennen wir Antijudaismus, weil es religiös ist. Bis zum 19. Jahrhundert lehnte man die Juden ab, weil sie die christliche Heilslehre verweigert haben. Antijudaismus. Und im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert, als es darum ging, ob Juden endlich die vollen staatsbürgerlichen Rechte kriegen –, man deshalb von einer »Judenfrage« sprach, was meinte: sollen die gleichberechtigte Staatsbürger sein? – da wurde die Abneigung gegen Juden neu definiert. Und jetzt haben Leute wie dieser Marr – er war nicht der einzige – den Begriff Antisemitismus erfunden und meinten: ›Die Juden gehören der Rasse der Semiten an.‹ Erstens gibt es keine Rassen und zweitens gibt es keine semitische Rasse. Aber das wussten die nicht.

Das behaupten ja heute immer noch viele.

Ja, die liegen aber auch falsch. Es gibt keine semitische Rasse. Und der uralte dumme Spruch: ›Wussten Sie denn nicht, dass die Araber aber genauso Semiten sind wie die Juden‹, ist natürlich völliger Quatsch. Semiten ist eine Sprachfamilie zu der ganz viele Sprachen gehören. Also, dass Kanaanäisch und irgendwelche äthiopischen Sprachen und Hebräisch sprachlich verwandt sind, hat nichts mit Rasse zu tun. Aber das werden die Leute wahrscheinlich in 200 Jahren noch glauben. Jedenfalls wurde die Judenfeindschaft für das 19. Jahrhundert mit dem Begriff Antisemitismus neu begründet. Und das Heilmittel gegen Juden im Zeichen des Antijudaismus war: wenn er sich bekehrt, wenn er sich taufen lässt, ist er kein Jude mehr, ist er einer von uns. Alles geregelt. Dieses Heilmittel gibt es im Antisemitismus natürlich nicht, denn der sagt: ›Die Juden sind so böse, so schlecht, so schädlich wegen ihrer Rasse, ihrer genetischen Eigenschaften, da gibt es keine andere Lösung als vertreiben und ermorden‹. Das ist der Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus. Dazwischen gibt es noch ein paar weitere Formen. Manche Leute glauben auch, dass jede Form von politischer Israelkritik Antisemitismus sei. Das ist es natürlich nicht. Und es gibt einen sekundären Antisemitismus. Der ist im Westen in der Bundesrepublik nach ’45 entstanden. Eine Judenfeindschaft nicht trotz Auschwitz, sondern wegen Auschwitz, der sich an Entschädigungsleistungen, an Wiedergutmachung hochrankt und mit diesem trotzigen: ›Ja die Juden verdienen an allem, auch an ihrem eigenen Unglück. Wie lange müssen wir denn noch zahlen? Wann wird denn endlich einmal Schluss sein?‹ Also als eine neue Form. Das alles, das sind die vier Hauptströmungen dessen, wofür man inzwischen den Begriff Antisemitismus als Oberbegriff nimmt.

Jetzt fällt mir ein, wir waren ja auch in Israel und Palästina, haben dort mit einigen geredet – das blenden wir gerade ein – da sind wir immer auf den Begriff »Zionismus« gekommen. Wenn du jetzt sagst, Ende des 19. Jahrhunderts kam der Begriff Antisemitismus auf, kam zu der Zeit – ich erinnere mich da an Herzl usw. – kam da der Zionismus auch auf?

Ja, der Zionismus ist sozusagen die Gegenbewegung. Wenn in Osteuropa, im Großen Russischen Reich, zu dem ja auch Polen gehörte, den Regierenden nichts mehr einfiel, dann hat man ein Pogrom veranstaltet. Juden totgeschlagen, Juden ausgeplündert, also gewaltige Pogrome in Odessa 1903, in Jasch 1904. Juden quälen, das war sozusagen das Ventil auch beim Volk. Um Zorn über die Obrigkeit abzulassen, hat man sie auf die Juden gelenkt. Das hatte gleichzeitig den Vorteil, man konnte die ausrauben. Und das war der Anlass für die Gegenbewegung, für die Bewegung des Zionismus. Nämlich eine Heimstatt für Juden zu finden, dass sie nicht ewig gequält und mit Füßen getreten, totgeschlagen und ausgeraubt werden dürften. Das hat im Westen Wenige interessiert, denn die deutschen Juden, die französischen Juden, die waren in erster Linie Deutsche und Franzosen, waren patriotisch, haben Goethe verehrt. Sie sagen: ›Ja gut, wir haben eine andere Religion – das zum Teil auch dann schon nicht mehr – aber Deutschland ist unsere Heimat, ist unser Vaterland.‹ Das konnten viele der russischen, der polnischen Juden natürlich nicht sagen, wenn sie einmal im Jahr durchs Dorf gejagt und totgeschlagen, vergewaltigt, ausgeraubt und ausgeplündert werden. Also für die war die Vorstellung Eretz Israel – der Heimat unserer Väter, da wo wir herkommen, Palästina –, als Ziel hochattraktiv und hochvernünftig. Das wurde ja dann von Theodor Herzl in Wien propagiert und in Basel beim Zionistischen Weltkongress wurde die Idee vertieft, wurde dafür geworben. Das war lange vor dem Ersten Weltkrieg. Dann ist aber der Begriff Zionismus eigentlich zum politischen Schlagwort, zum Kampfbegriff herabgesunken. So wie es also heute stumpfsinnige Leute gibt, die sagen: ›Gegen Juden habe ich gar nichts, aber die Zionisten sind ganz, ganz böse und schädlich.‹ Und natürlich das Erbe der Sowjetunion, die Israel im Zeichen des Zionismus als den Schurkenstaat schlechthin definiert hat. In dem ganzen Herrschaftsbereich der Sowjetunion, also auch in der DDR, war Israel der Schurkenstaat überhaupt. Ich habe im Augenblick noch ein Forschungsprojekt mit etlichen Kollegen am Laufen: Das Feindbild Israel, wie es in der DDR entstanden ist und welche Nachwirkungen das bis heute hat.

Was hat Antizionismus mit Antisemitismus zu tun? Es gibt ja in Deutschland Leute, die sagen: ›Das ist dasselbe, Antizionismus ist auch antisemitisch.‹

Ja, das hat natürlich im Grunde zunächst einmal gar nichts miteinander zu tun. Antisemitismus ist die Abneigung gegen Juden, weil er Jude ist und nichts mehr. Zionismus ist eine politische Bewegung und hat erst sekundär damit zu tun, dass die Zionisten auch Juden sind. Es gibt natürlich Interessenten, Aktivisten und unangenehme Leute, die das schrecklich gerne vermengen. Das sind natürlich auch Interessenvertreter, die jetzt einreden wollen, dass jeder schiefe Blick auf Israel, jedes unfreundliche Wort oder die Feststellung, die gegenwärtige Regierung Israels betreibt eine Politik, die kaum je zu einem Frieden in Nahost führen könnte – eine Bemerkung, die ich jetzt mit voller Absicht so formuliert habe, um dar zu tun: das hat mit Antisemitismus gar nichts zu tun. Das ist politische Kritik an einem politischen Sachverhalt und nicht mehr und nicht weniger.

Aber Wolfgang, Israel ist ein Judenstaat, und wenn Du das so formulierst, dann…

Ist Israel ein Judenstaat?

So höre ich es.

Ja so hört man es, aber wie ist es dann mit den muslimischen Bürgern Israels?

Ja darauf wollte ich ja auch kommen. Das ist ja dann eine Minderheit.

Die gibt es, aber Deutschland ist auch kein Katholikenstaat oder Protestantenstaat, obwohl sehr erhebliche Anteile der Bevölkerung katholische oder evangelische Kirchensteuer zahlen. Also, man muss natürlich bereit sein, ein kleines bisschen zu differenzieren. Dass die Mehrheit im Staate Israel Juden sind, das ist vollkommen klar. Deshalb ist die Kritik an der Politik dieses Staates noch lange keine Kritik oder Schmähung von Juden, sondern es ist eine Bewertung der Regierungskunst der derzeitigen Regierung. Aber es gibt, wie gesagt, Leute, die schon das als eine feindselige Einstellung gegenüber Juden an sich und überhaupt gewertet wissen wollen.

Das ist mir aufgefallen als wir wiedergekommen sind aus Nahost. – Ich weiß, die Israelis selbst haben sich dagegen entschieden, sich offiziell »Judenstaat« zu nennen, weil die Iraner nennen sich auch »Islamische Republik« usw. Da wollten sie sich, glaube ich, irgendwie auch abgrenzen. Aber in Deutschland wird ja gemeinhin über den »jüdischen Staat« oder den »Judenstaat« gesprochen.

Ja, nun auch mit einer gewissen Berechtigung, da einfach die Mehrheit von dieser Bevölkerungsschicht gestellt wird. Das kann ja aber trotzdem nicht bedeuten, dass nicht Kritik an politischen oder militärischen oder ökonomischen Handlungen dieses Staates verboten seien, weil das gegen die Juden geht. Das genau wollen aber manche Leute einer verunsicherten und ängstlichen Mehrheit einreden. Und wir kennen doch alle diese Situation: ›Weißt Du, mein Freund ist…hm, äh, äh… jüdischer Herkunft.‹ Das Wort Jude ist mir also jetzt gerade sichtlich im Halse stecken geblieben, weil ich unsicher bin. Darf man denn Jude sagen oder ist es eine Beleidigung? Oder ist man dann ein Nazi, wenn man Jude sagt? Also würgt man schnell ein bisschen und macht daraus »jüdische Herkunft«, was dann sogar vielleicht eher beleidigend wäre, als wenn ich sage: ›Mein Freund ist Jude.‹ Wenn ich sage »jüdische Herkunft«, dann nehme ich ihm vielleicht die Eigenschaft als Jude, dass er es nur mal früher gewesen war und dass die ihn rausgeschmissen haben – was natürlich nicht geht – oder er ausgetreten wäre. Also ich will darauf aufmerksam machen, wie verkrampft die Situation ist hinsichtlich, was darf man, was darf man nicht. Israelkritik sei verboten, behaupten so und so viele Menschen, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagen. Dann hätte unser früherer Bundespräsident Johannes Rau Verbotenes getan, als er unter großem Beifall im Auswärtigen Amt, bei einer großen Konferenz mit Botschaftern und Außenministern und allem sagte: »Kritik an Israel ist doch unsere Freundespflicht.« – Großer Beifall. Aber wenn es der Bundespräsident sagt, muss man wohl Beifall spenden. Wenn man das jetzt im Alltag versucht darzulegen, dann stößt man auf Hemmungen, auf Verkrampfungen. Und tatsächlich, das muss man natürlich dazusagen, genau das nutzen auch Antisemiten aus, also Leute, die nun wirklich unanständige Judenfeinde sind, die genau wissen: Wenn ich sage ›die Juden sind doch alle dies oder jenes oder das‹, dann haben sie ein Problem hier, weil das verpönt ist. Zu Recht. Wenn sie dann aber sagen: ›In Israel, da sieht man’s ja doch wieder einmal, dass die Juden keinen anständigen Staat machen können‹ oder so, dann hat er einfach Israel als Folie benutzt. Das halte ich übrigens auch nicht mehr für berechtigte Israelkritik. Das ist eine Schmähung. Aber so erschleichen sich Antisemiten, also Judenfeinde, wie etwa dieser berüchtigte Abgeordnete Gedeon bei der AfD, der in Stuttgart im Landtag sitzt: ›Ach, gegen Juden hat er gar nichts, aber die Zionisten…‹ Und dann holt er den übelsten alten Plunder aus den Magazinen, um Israel und die Juden zu beleidigen – unter dem Deckmantel, das sei doch nur berechtigte Kritik am Zionismus, aber gegen Juden habe er gar nichts.

Was ich dort eben auch gelernt habe, ist, dass jeder ein anderes Verständnis hat von Zionismus. Aber ich wollte mal zur »Israelkritik« kommen. Seit wann gibt es diesen Begriff eigentlich? Weil es gibt ja keine »Frankreichkritik« oder »Österreichkritik« oder »Deutschlandkritik«. Aber »Israelkritik«. Seit wann ist davon die Rede und warum gibt es diesen Begriff?

Ich weiß es nicht, seit wann es diesen Begriff gibt. Vielleicht seit 20 Jahren. Vielleicht ist er auch noch jünger. Ja, das ist natürlich auch so ein Ersatzbegriff, damit man nicht in die Falle tritt, dass man was gegen Juden sagt oder gegen Juden hat. Ursprünglich vielleicht sogar ein Ergebnis von einem Differenzierungsbedürfnis. – Bei den Amerikanern spricht man dann gerne vom »Antiamerikanismus«. Trotzdem, als der amerikanische Präsident Bush diesen wirklich unnötigen, sinnlosen und verheerenden Krieg gegen den Irak begonnen hat, waren viele – auch viele Amerikaner – dagegen. Ich war zu der Zeit gerade zu einer kurzen Gastprofessur in Chicago. Als die dann ihre Truppen entsandt haben, haben mir dann also all die liberalen, aufgeklärten Kollegen erklärt: ›Warte noch ein kleines bisschen ab, aber we’ll kick him out of office, den Bush. Also das ist ja echt unglaublich, und was er gegen Deutschland sagt, das ist nicht unsere Meinung.‹ Aber – und jetzt komme ich auf den Unterschied – wenn man damals Amerikakritik geübt hat und sagte: ›Dieser Krieg ist aber doch dumm und falsch und es kann nur schiefgehen«, dann hat man also vielleicht auch Präsident Bush als den bösen oder dummen Verursacher gebrandmarkt, aber niemand ist auf die Idee gekommen, zu sagen: ›Ja, da sieht man es halt wieder, die Amerikaner können einfach nicht mit Macht umgehen, die Amerikaner, die haben ja schon die Indianer totgeschlagen, also müsste man den Amerikanern den Staat wegnehmen und möchte sie ins Meer treiben‹, oder so etwas. Genauso endet dann aber Israelkritik von Antisemiten ziemlich schnell. Und daran erkennt man dann auch, ob das jetzt lediglich dem Differenzierungsbemühen geschuldet ist, dass man zwischen politischen Funktionären und Eliten unterscheidet und einem Land und einem Volk. Das ist dann genau der Punkt mit Israel. Diese sogenannten Israelkritiker enden dann in der Regeĺ damit: ›Da sieht man es mal wieder, der Jude ist zu etwas nicht fähig. Der Jude macht ja alles kaputt, was er nur anfängt‹. Und dann kommen diese ganzen unsäglichen und blödsinnigen Vergleiche, wie: ›Was die Nazis mit den Juden getan haben, das tun die Juden jetzt mit den Palästinensern.‹ Blöder geht’s kaum. Oder: die Israelis würden einen hemmungslosen Vernichtungskrieg gegen die Araber führen. – Wenn wir etwas gegen Österreich haben und das deutlich machen, wenn wir was gegen amerikanische Politik haben, das endet nie so. Es endet aber nur zu oft, wenn wir israelische Politik kritisieren, so. ›Ja, die Juden sind halt so.‹

Kannst Du verstehen, dass manche Leute sagen – ich habe auch viele Kollegen, die sagen –: ›Als Deutscher sollte man sich in Sachen Israelkritik zurückhalten, also gerade als Deutscher.‹?

Naja, wir können uns ja nicht ewig von allem zurückhalten. Es passiert dann auch nichts. Diese Verklemmtheit ›Lieber nichts sagen, bevor ich was Falsches sage‹, glaube ich, ist viel schlimmer, als wenn ich laut und deutlich sage: ›Ich liebe Israel, ich bin froh, dass es den Staat Israel gibt, es ist ganz selbstverständlich, dass der seine Existenzberechtigung hat, aber ich würde ihm eine bessere Regierung von Herzen gönnen, damit die Israeli endlich in Frieden und Freundschaft mit ihren Nachbarn leben können.‹ Das muss man dazu sagen, das muss man dazu vermitteln. Und das finde ich sehr viel besser, als wenn man wegtaucht und meint: ›Da sage ich lieber gar nichts‹ oder gar behauptet, das sei verboten oder meint, man würde irgendwelches Ungemach erleiden, wenn man sagen würde: ›Netanjahu ist aber nicht die erste Wahl, was weltpolitische Weisheit anlangt.‹

Antisemitismus heutzutage in Deutschland. – Du würdest, glaube ich, nicht sagen, dass er nicht existent ist. Ist er denn noch so schlimm wie in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren? Ist es jetzt wieder eine neue Art von Antisemitismus?

Es gibt keinen neuen Antisemitismus. Der wird zwar von den Medien und der Politik so alle 10, 15 Jahre erfunden, es ist aber immer dasselbe. Damit der auch mit denselben Ressentiments und Vorurteilen, Klischees, stereotypen Vorstellungen arbeitet. Und er wird auch nicht stärker. Er ist auf einem ziemlich über die Jahrzehnte – denn es wird regelmäßig von der Meinungsforschung untersucht und gemessen – unverändertem, relativ niedrigen Level. Es hat sich bei den Leuten herumgesprochen, dass Antisemitismus in Deutschland karriereschädlich ist, dass man mit offenem Antisemitismus in Deutschland keine Geschäfte macht. – Du schaust so kritisch?

Mir geht nur durch den Kopf, dass es ja sein könnte, dass viele sich ihren Antisemitismus sparen. Also dass sie den verheimlichen.

Also von dem spreche ich ja nicht, ich spreche von dem, den man messen kann. Von dem Antisemitismus, den es in den Medien gibt, der sich in öffentlicher Gewalt, in Schmähung zeigt, der also manifestiert wird. Und das ist relativ geringfügig. Da stehen wir jetzt gemessen an Nachbarländern im Westen wie im Osten ziemlich gut da. Nützt uns aufgrund unserer Vorgeschichte so rein gar nichts. Was aber jetzt unter vier Augen im verschwiegenen Kämmerlein in der Herrenrunde, unter Gleichgesinnten beim Sport, am Arbeitsplatz gedacht und auch kommuniziert wird, das kann sehr rasch grau und ganz böse sein, da bin ich ziemlich sicher. Da muss man ja auch nicht so rumpöbeln, wie das manche Leute in der AfD derzeit gerne tun, sondern da verständigt man sich über Chiffren, wie ›Diese Leute an der Ostküste, na, Sie wissen schon.‹ Da wissen die dann Bescheid, da hat man sich verständigt: ›Wir mögen Juden nicht.‹ Und hat gleichzeitig mit dieser Chiffre auch übermittelt: ›Alle Juden sind reich, alle Juden betrügen die Nichtjuden, die Geldsäcke der amerikanischen Ostküste beherrschen die Politik und alles drumherum‹.

Die Hollywood Studios…

Genau, alles. Das alles mit der Chiffre »Ostküste« und dem Augenzwinkern: ›Da haben wir uns verständigt, wir sind die Eingeweihten, da brauchen wir gar nichts zu äußern, was jetzt justiziabel wäre, was uns den Staatsanwalt wegen Volksverhetzung oder so etwas auf den Hals bringt.‹ Also was dieser klandestine also der heimliche, der untergründige Antisemitismus ist, über den haben wir natürlich keine Erkenntnisse, keine Forschungen. Die Forschungen, die wir haben, das sind Einstellungen. Die ergeben Werte von knapp unter 20%. Das heißt aber nicht, dass 20% oder jeder fünfte Deutsche ein Antisemit ist – wie es dann auch gern in der Schlagzeile auf Seite 1 der Zeitung aufgemacht wird – sondern diese Umfragen, die nach einem sehr komplizierten Muster aufgebaut sind, die fragen nicht mehr so wie in den 50er-Jahren: ›Haben Sie etwas gegen Juden?‹ – ›Nein, ich habe nichts gegen Juden, wenn sie sich anständig benehmen.‹ Das war 1946/48 bei Allensbach, diese Frage. So fragt man nicht mehr. Sondern heute fragt man: ›Würden Sie gerne in einer Umgebung leben, in der sehr viele Juden leben?‹ Wenn man jetzt sagt: ›Nein, da würde ich nicht gerne leben‹, hat man natürlich auf der Strichliste einen negativen Strich. Es kann ja aber auch sein, dass man nicht gerne in einem jüdischen Viertel – das es ja nicht so richtig gibt – aber vielleicht nicht direkt neben der israelischen Botschaft in Berlin leben möchte, weil da sind dreimal in der Woche Straßensperrungen. Da kann ich dann mit meinem Auto unter Umständen, wenn ich daneben wohne, nicht in die Garage, sondern der Polizist sagt mir: ›Für sechs Stunden ist die Straße wegen eines Empfangs gesperrt, komm anschließend wieder und hier kommst du jetzt auch nicht durch.‹ – Also wegen ganz trivialen Misslichkeiten. Oder die ganz berühmte Frage: ›Möchtest Du, dass Deine Tochter einen Juden heiratet?‹ Dann sagst du: ›Nein, das möchte ich nicht‹. Du bist aber kein Antisemit, sondern du bist ein tiefgläubiger protestantischer Christ. Für dich wäre es genauso schlimm, ob die Tochter jetzt mit dem Katholen ankommt oder einem Zeugen Jehovas oder einem Juden. Das ist alles gleich schlimm. Sondern man kann sich nur vorstellen, die Tochter ist verloren, wenn sie nicht auch einen fundamentalistischen Evangelen heiratet. – Also eine ehrliche Antwort kann einen dann unter Umständen in das Lager derer bringen, wo negative Einstellung gegenüber Juden vorhanden sind. Solche Einstellungen bedeuten aber kein Aktionsbedürfnis. Man stellt sich unter dem Antisemiten dann nur zu gerne denjenigen vor, der mit dem Dolch durchs Dorf läuft und schreit: ›Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht es nochmal so gut‹, oder der ›Juden raus!‹ plärrt oder Gewalt üben möchte.

Also militante Antisemiten.

Ja. Aber das sind ganz wenige. Das ist verschwindend gering. Das ist auch zu gefährlich in diesem Land. Also diese Leute, die jetzt auf diese kompliziert gemessene Art eine Einstellung verraten, die auch Negatives gegenüber Juden verrät, sind deshalb noch keine Antisemiten. Wir haben aber leider kein Vergleichsmaterial. Es wird immer nur die Einstellung gegenüber Juden gemessen, nicht gegenüber Österreichern.

Aber Österreicher sind ja auch keine Religion.

Es kommt ja nicht nur auf die Religion an, die jüdische Minderheit definiert sich ja auch nur zum Teil über die Religion. Also das ist kein Ausschlussargument. – Die Einstellung bedeutet nicht Militanz, das wird aber gerne gleichgesetzt. Und wenn dann aber die Aktivisten sagen: ›Jeder Fünfte ein Antisemit!‹, bei diesem empirischen Ergebnis, dann ist das schon ziemlich blöd. Die Frage ist ja auch: Warum gibt es denn überhaupt noch Antisemitismus?

Du stellst Dir die Fragen ja jetzt schon selbst.

Ja man hilft eben gerne mal aus. – 1945 dachten auch nur die ganz Naiven oder ganz Gutgläubigen: ›Jetzt, nach dieser Katastrophe, nach 6 Millionen Ermordeten, die im Namen einer Ideologie getötet wurden, jetzt muss es den Leuten doch wie Schuppen von den Augen fallen. Jetzt kann es doch so was nicht mehr geben.‹ – Die hatten natürlich von allem Anfang an Unrecht. Die ersten wirklich antisemitischen, bösartigen Pogrome, also Gewaltaktionen, sind schon wieder 1945/46 passiert. Nicht in Deutschland, weil die Besatzungsmächte das verhindert haben. Aber zum Beispiel in Polen, in der Slowakei, in Rumänien. Also Antisemitismus ist ein Übel, das nicht auszurotten ist. Und wenn ich jetzt gefragt werde: ›Warum haben wir denn immer noch so viel Antisemitismus, warum werden denn die Ewiggestrigen nicht klüger?‹, dann sage ich: ›Ja, dank dieser ungeheuren Anstrengungen, welche politische Bildung macht, die die Medien Arm in Arm mit den politischen Eliten machen, deshalb halten wir das so klein und auf dem niedrigen Level, den es hat.‹ Und von dem ewigen Alarmgeschrei, die Lage sei noch nie so ernst und gefährlich gewesen wie jetzt, – das kenne ich auch seit Jahrzehnten. Als ich anfing, mich dafür zu interessieren, da sagte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland – also in den 70er-, 80er-Jahren – der Antisemitismus sei mit neuer Qualität unter uns getreten. Er sei noch schlimmer als er jemals gewesen sei und die Antisemiten würden immer frecher, und früher seien sie wenigstens anonym gewesen, jetzt sei das offen. – Ich höre also seit ungefähr 50 Jahren dieselbe Leier. Und man darf nicht immer unablässig die Alarmglocke läuten. Dann kommt nämlich die Feuerwehr nicht mehr, wenn es ernst wird. Und das sage ich immer wieder an die Adresse der Aktivisten, die nicht genug Unglück haben können, um sich dann auf der sicheren Seite der Guten tummeln zu können. Wir unternehmen ungeheure gesellschaftliche Anstrengungen, die Parteien – natürlich nicht die eine, die jetzt das große Wort im Bundestag zu führen versucht –, die gesellschaftlichen Verbände, etwa die Arbeiterwohlfahrt, die haben alle politische Bildungsprogramme, in denen die Bekämpfung von Antisemitismus eine wichtige Rolle spielt. Und das seit Jahr und Tag. Dass es ein Universitätsforschungsinstitut zur Geschichte des Antisemitismus, also Geschichte und Wirkung und Gegenwart des Antisemitismus gibt, das hat ja auch eine gewisse öffentliche Wirkung. Und das soll man doch Bitte sehr, jetzt nicht einfach plattfüßig immer nur klein reden, indem man sagt: ›Oh, es wird ja immer schlimmer! Und es war noch nie so arg, die Bösen werden immer ärger und die Guten immer weniger!‹. – Ich beharre darauf: Antisemitismus hat es in keinem Land der Erde so schwer zur Blüte zu kommen, sich zu entfalten, wie in Deutschland.

Können wir darauf stolz sein?

Nein. Wenn man eine Bringschuld erledigt, also auch derjenige, der einen Haftungsschaden begleicht, muss darauf nicht stolz sein, sondern das ist jetzt eine selbstverständliche Notwendigkeit. Wenn wir einigermaßen politisch mit uns als Gesellschaft zurechtkommen wollen, dann bekämpfen wir den Antisemitismus. Aber Bitte sehr, im gleichen Zuge, auch jede Feindschaft, jede Schmähung gegen andere Minderheiten. Denn in Deutschland darf man nicht ungestraft gegen Juden hetzen, man darf aber ungestraft gegen Muslime hetzen. Und man darf auch ungestraft Sinti und Roma beleidigen. Diese Lektion ist noch nicht so ganz gelernt, da hat die Vorurteilsforschung noch einiges zu tun. Also klar zu machen, dass es nicht genügt, tiefe Reue, tiefes Leid, Scham und Trauer zu empfinden gegenüber der einen Minderheit, die wir mit so katastrophalem Ergebnis ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet haben, sondern wir müssen uns allen Minderheiten gegenüber menschlich und vernünftig bewegen.

Warum machen wir das nicht? Ist das nicht auch selbstverständlich?

Naja, dann fragen Sie doch einmal die AfD, was sie im Programm hat. Nämlich der Hauptpunkt des AfD-Programms ist doch: ›Wir wollen keine Muslime. Muslime sind schädlich, sind gefährlich. Wir würden gerne alle Muslime rausschmeißen‹. Und manch einer aus dieser Partei sagt das ja dann auch immer mal wieder im allerschönsten Klartext.

Da werden jetzt wahrscheinlich ein paar AfDler unter dieses Video schreiben: ›Das steht da gar nicht im Programm, das steht nirgendwo, du erzählst Lügen.‹

Naja, dann sollen sie das Programm doch einmal lesen. Ich kenne das Programm. Es ist ziemlich dick, ziemlich viel Arbeit. Man muss unter Umständen auch zwischen den Zeilen lesen können – liebe Freunde –, um einen Text verstehen zu können. Aber dass die AfD das Rad der Geschichte zurückdrehen will, dass sie den ›guten‹ – nein, den schlechten! – alten Nationalstaat, der uns so viel Unglück gebracht hat seit es einen deutschen Nationalstaat 1871 gegeben hat, wollen. Sie wollen die einzig zukunftsweisende Idee – Europa – bis zur Unkenntlichkeit denunzieren. Und sie wollen keine Einwanderer und schon gar nicht Einwanderer aus bestimmten Regionen, die eine bestimmte Religion haben oder aus einem bestimmten Kulturkreis kommen.

Jetzt sind wir nochmal bei dem Thema, das ich besonders spannend finde. Wir hatten ja auch schon in unserer Zeit einige Gäste, die davon gesprochen haben, dass der Antisemitismus im 18., 19., 20. Jahrhundert, nicht gleichzusetzen, aber vergleichbar ist, mit dem der Islamophobie oder Islamfeindlichkeit heutzutage. Wie siehst Du das?

Naja, müssen wir denn erst warten? Der Antisemitismus meines Kollegen Treitschke, 1879 Professor an der Universität Berlin, der sagte: ›Die Juden sind unser Unglück und die strömen da herein und wenn wir sie erst lassen, dann haben sie hinterher die Börsen und die Kultur, und dann haben sie uns alle überwältigt.‹ Der Stürmer, das Hauptnaziblatt gegen die Juden, hatte diesen Ausspruch des Kollegen Treitschke auf jeder Seite: »Die Juden sind unser Unglück«. – Müssen wir denn jetzt wirklich noch einmal 30 oder 40 oder 50 Jahre warten, bis aus den Parolen – die Parolen von 1879 sind ab 1933 in Taten umgesetzt worden, dazwischen hat man sich daran gewöhnt – Taten werden? Oder haben wir nicht verdammt nochmal so viel Verstand, dass wir so viel aus der Geschichte lernen könnten: was so anfängt, das endet so. Adolf Hitler ist doch nicht als Gewaltherrscher, als Diktator mit der Peitsche unters deutsche Volk getreten, sondern – wie sagt man da heute so nett – als Populist. Als Rechtspopulist hat der in den Münchner Bierhäusern seine Reden gegen die Juden gehalten. Erst als er die Mehrheit so einigermaßen hinter sich hatte, hat er das dann in die Taten umgesetzt. Ja, so viel müssten wir ja doch wirklich aus der Geschichte lernen können. Was so anfängt, endet so. Es gibt kein besseres Beispiel in der Vorurteilsforschung – mit einem Ressentiment: ›Den mag ich nicht, der ist Jude‹ zur Tat: ›Den schlag ich tot, es kommt nicht darauf an, weil er Jude ist‹ –, dass es so genau und so eindeutig vor Augen führt.

Warum wehren sich so viele dagegen? Ich meine, Du hast das vor ein paar Jahren mal gesagt, und hast einen richtigen Shitstorm abbekommen. Warum haben sich da so viele Menschen gegen gewehrt?

Naja, weil man vielleicht lieber seine eigene Wahrheit hat oder weil jetzt die eigene Befindlichkeit, die Angst bestimmend ist. Es ist natürlich viel attraktiver, zu sagen: ›Muslime sind ganz wahnsinnig bösartig und gefährlich. Und die Muslime haben nur einen Daseinszweck, nämlich uns gute Christen in die Pfanne zu hauen.‹ – Ja, das ist vielleicht eingängiger, besser zu glauben. Vielleicht wenn man auch Vormittags in der Straßenbahn gerade einen unangenehmen Menschen, von dem man vermutet, dass er Muslim ist, getroffen hat. Also das Schlichte, was man glaubt oder was man zu sehen glaubt und was die eigenen Ängste bedient, das ist sehr viel eingängiger als differenzierte, mit Argumenten und historischen Beispielen besetzte, Rede. Denn was 1870 war, das ist so lange her, das braucht ja nicht mehr interessieren. Ein Beispiel: Ich war einmal zur Oktoberfestzeit in München zu einem Vortrag über Ressentiments, über Muslimfeindschaft. Und dann hat eine Dame im Publikum sich erhoben und hat gegackert: ›Oh, sie kennt ja ihr München gar nicht mehr. Und da war sie in der Fußgängerzone und da hat sie nur schwangere Muslimas gesehen, die haben einen Bauch vor sich hergetragen und Kinderwagen geschoben und hinten am Rockschoß hingen auch noch drei Bälger und die, die nehmen uns alles…!‹ – Und da habe ich gesagt: ›Ja, gute Frau, ich war heute Vormittag auch in der Fußgängerzone, da habe ich diese Bilder aber nicht gesehen, die Sie jetzt hier beschreiben. Ich habe nämlich Japanerinnen im Dirndl gesehen. Ich habe Afrikaner in kurzer Lederhose gesehen. Ich habe Amerikaner in bayrischer Tracht gesehen. Also mir scheint doch, dass die bayrische Folklore, eine eher größere Ausstrahlungskraft zu haben scheint, als diese Bilder, die Sie uns jetzt beschwören, die Sie aber wahrscheinlich nicht gesehen haben, sondern die Ihnen jemand vor Augen geführt hat oder vor das innere Auge geführt hat.‹ Also mit anderen Worten: Sie glauben einem Propagandaredner, der so oft das Bild von der Muslima auf dem Kreuzzug gegen das christliche Abendland [heraufbeschwört hat], »ein Kreuzzug, der in ihrem Wochenbett ausgetragen wird« – Originalton FPÖ-Propaganda, mit der Aufforderung endend »Abendland in Christenhand«. Also diese Chimäre, als kämen die Muslime nur, um das Abendland in Besitz zu nehmen. – Ich will mit diesem viel zu langen und verworrenen Beispiel nur sagen: man glaubt lieber das, was man glauben möchte. Und man sieht das, auch wenn es gar nicht real existiert, was man sehen möchte. Und beruft sich dann im Zweifelsfall auf irgendwelche Quellen und sagt: ›Du lügst!‹, wenn du eine andere, mit Argumenten begründete Meinung vorträgst.

Gibt es so etwas wie eine institutionelle Islamophobie? Also ich denke da jetzt an ein Beispiel: seit ein paar Jahren gibt es das Wort »Gefährder« in der deutschen Sicherheitspolitik. Und immer wenn wir da nachfragen in der Bundespressekonferenz, sagt uns dann das Innenministerium: Ja, in Deutschland gibt es aktuell 800 oder 900 islamistische Gefährder. Und dann frage ich: Und wie viele rechtsextreme und linksextreme?, Ja linksextreme so 3, und 15 rechtsextreme Gefährder. Dann wundere ich mich schon, dass unsere Sicherheitsbehörden auch ganz besonders ein Auge auf die extremistischen Moslems haben, wo ich mir sage: Ich habe aber auch Angst vor den Nazis und Nazis vergehen mehr Verbrechen, also Gewaltverbrechen an Minderheiten.

Naja. Es ist ja bei uns alles sehr gut geordnet. Man ist für die einen zuständig oder für die anderen, aber nicht für das Ganze. Man ist wahnsinnig überlastet, man hat Nebenjobs – habe ich der heutigen Zeitung entnommen, dass im Falle des Weihnachtsmarktattentäters eine hochgestellte, dafür zuständige Persönlichkeit so viele Nebentätigkeiten hatte, dass sie sich dem eigentlichen Problem gar nicht zuwenden konnte. Und ich habe von Geheimdienstleuten und anderen Sicherheitsspezialisten schon so viel Unsinn, der aus dem Ärmel geschüttelt wurde, so viel Vermutungen – aber mit hoher Überzeugungskraft vorgetragen – gesehen, dass ich da wenig glaube.

Eine andere Frage, die ich gerne mal Leuten stelle – das ist eine Theorie von mir. Ich wundere mich immer, warum die Deutschen, wenn man sie fragt in Umfragen, massig sagen, sie haben eher Angst vor islamistischem Terror, also vor Taten von Moslems, als von Nazis, also vor rechtsextremen Terror. Meine Theorie ist, der »normale, weiße Deutsche« sagt sich jetzt: ›Bei den Nazis kann ich ja nicht Opfer werden, ich bin kein Ausländer, ich sehe ja nicht fremd aus, die Nazis schnappen sich ja nur die Ausländer, die Fremden. Bei den Moslems, bei den Islamisten, da könnte ich ja Opfer werden und da habe ich mehr Angst.‹ Was sagst Du?

Halte ich eigentlich nicht sehr viel davon. Denn: ich bin jetzt der Nazi und Du bist die linke Zecke – also überhaupt nicht muslimisch – aber ich schlag Dich trotzdem nieder und trampel auf Dir rum, weil Du eine linke Zecke bist; weil ich beschlossen habe, dass Du eine linke Zecke bist. – Außerdem glaube ich, tut Gewalt von einem Nazi ausgeübt genauso weh und hat genau dieselben verheerenden Folgen, wie Gewalt, die von irgendeiner anderen Richtung kommt. Von der islamistischen Gewalt habe ich ja in Deutschland noch nichts bemerkt.

Aber Du hast Amri gerade angesprochen.

Ja stimmt. Aber ich dachte jetzt so an die alltägliche Gewalt. Da hört man ja schnell weg. Nazis prügeln Afrikaner halb tot… Dieser Amri, klar, das ist ein bösartiger Fall islamistischer Gewalt. Wie viele andere gibt es, wie gewohnt sind wir das schon? Es gibt diesen Fall, den es bei besserem Funktionieren der dafür zuständigen Behörden nicht gegeben hätte. Es ist aber nicht alltäglich wie rechte Gewalt alltäglich in diesem Lande ist. Das ist ein ziemlich großer Unterschied. 

Dann reformuliere ich meine Frage: Wie erklärst Du Dir, dass die Deutschen eher Angst haben vor islamistischem Terror als vor rechtem Terror?

Die Islamisten sind Fremde, und was der Fremde tut, ist immer unheimlicher, das fürchtet man immer mehr. Auch wenn man den Rechten nicht mag und da keinerlei ideologische Verwandtschaft haben will, so mag es sein, dass man die doch immer noch mehr zum Eigenen rechnet, Entschuldigungsgründe – also schlechte Kindheit, Elend, soziale Verhältnisse und was man da so finden kann – also, dass man den eher nach dem Motto ›Nestbeschmutzereffekt vermeiden‹ behandelt, dass man das Eigene also lieber unter den Teppich kehrt. Aber bei dem Fremden umso aufmerksamer ist, was er tut.

Gib uns doch nochmal ein paar Beispiele. Wenn Du sagst: ›Der Antisemitismus von damals, äußert sich heute in der Islamophobie.‹ Gib uns da doch Beispiele, wo Du die Parallelen siehst.

Naja, also Parallelen gibt es hundertprozentig in der Argumentation. In unserem ja doch wirklich sehr säkularen Zeitalter – hast Du denn heute schon gebetet?

Nein.

Ich auch nicht – spielt auch die Religion in unserem Alltagsleben für die Mehrheit keine Rolle. Das ist was für Minderheiten oder für besondere Gelegenheiten. Religion spielt keine Rolle, aber als Waffe zur Ausgrenzung Anderer ist Religion ein wichtiges Argument. So hatte man einst – auch noch als der rassistische Antisemitismus schon blühte, aber natürlich auch davor – viele Argumente: ›Die Juden, die haben ja eine Religion, die ist ganz abartig; der Talmud gebietet dem Juden den Nichtjuden zu betrügen; der Talmud erlaubt es dem Juden jedes Verbrechen zu begehen, nicht gegen das eigene Volk, aber gegenüber den Nichtjuden ist alles erlaubt‹. Dieser Unsinn, dieser Schwachsinn wurde also Jahrhunderte lang gepredigt und von angeblichen Spezialisten und Exegeten verkündet. Heute gibt es diese Erfolgsautoren – der eine ist gerade gestorben, Udo Ulfkotte –, also mit hohen Auflagen. Der sagt: ›Ja die Muslime, die sind deshalb so gefährlich, weil ihre Religion gebietet ihnen, Gewalttaten gegen Nichtmuslime zu verüben. Ein Christ, der eine Gewalttat gegen einen anderen Christen verübt, macht sich schuldig. Ein Muslim, der keine Gewalttat gegen Nichtmuslime verübt, macht sich auch schuldig.‹ Das ist ja nun dieselbe Argumentation: die Religion gebietet den Angehörigen dieser Religion, Böses zu tun, deshalb sind sie gefährlich. Genauso wie einst gegenüber den Juden, so wird das heute noch – oder wieder – gegenüber Muslimen verzapft. Das ist absolut dieselbe Argumentation, nur gegenüber einer anderen auszugrenzenden Gruppe.

Wenn ein ISIS-Kämpfer sich auf den Koran bezieht, dann sagt er: ›Hier, da steht das drin, ich habe meine Argumentation gefunden, warum ich das jetzt machen kann‹. Dann gibt es auch sogenannte Islamkritiker, die auch in das Buch gucken, aber im negativen Sinne und sagen dann: ›Haha, da steht das drin und darum machen die das, darum dürfen die das und deshalb ist die Religion an sich scheiße.‹ Da sind ja dann beide Fundamentalisten.

Der ISIS-Krieger ist ein Terrorist und er missbraucht zum Leidwesen der übergroßen Mehrheit der Muslime den Islam für seine terroristischen Zwecke.

Aber missbraucht der Ulfkotte dann nicht auch den Koran und diese religiösen Texte, indem er sich was raussucht?

Natürlich. Genauso. Und seine Anhänger, die erscheinen dann, wenn ich irgendwo einen Vortrag halte und kommen am Ende der Diskussion mit Schaum vor dem Mund: ›Ja wussten Sie denn nicht, dass im Koran in 99 Suren zum Mord an Ungläubigen aufgefordert wird!‹ Dann sage ich: ›Ja, besprechen Sie das doch Bitte mit einem, der sich im Koran auskennt. Ich kenne mich nicht aus, ich bin kein Islamwissenschaftler. Und ich kenne mich in der Bibel nicht besonders aus und ich kenne mich im Talmud nicht aus, und ich kenne mich im Koran nicht aus. Besprechen Sie das mit dem Imam, der ist der Fachmann. Oder mit dem katholischen Pfarrer, wenn Sie wissen wollen, wie etwas zu verstehen ist, was in den Heiligen Schriften steht. Aber glauben Sie nicht jedem interessengeleiteten Publizisten, der das auch nur irgendwo abgeschrieben hat.‹ Also um es auf den Punkt zu bringen: Genauso wie der ISIS-Krieger die Religion missbraucht für seine verwerflichen Tätigkeiten, so missbraucht sie auch der sogenannte Islamkritiker – den ich also doch besser einen Muslimfeind nennen würde, denn man nennt Judenfeinde auch deutlich beim Wort und nicht einen »Kritiker« – genauso missbraucht der Demagoge, egal ob der jetzt Ulfkotte heißt oder ein Vordenker der AfD ist, auch die Gesetze von Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit, um einen politischen Angriff durchzuführen.

Ein Punkt noch, was auch in den letzten Jahren oft in den Medien zu lesen ist – auch von teilweise geschätzten Kollegen im Journalistenkreis –: die Angst vor der Scharia. Dieser Begriff von Scharia hat sich ja auch so verfestigt, und das ist so angstbeladen. Wie erklärst Du Dir das?

Ja, weil mit Scharia verbindet man: da wird einem die Hand abgehackt. Das ist natürlich auch ziemlich vorsintflutlich, dass das in manchen Regionen noch gilt. Aber dass die Scharia in Deutschland, in Mitteleuropa, irgendwo eingeführt werden könnte, dass das irgendjemand auch nur wollte, das ist doch vollkommen absurd. Auch ein fundamentalistischer Muslim, der lieber die Scharia hat als das Grundgesetz, kommt, wenn er hier lebt, am Grundgesetz nicht vorbei. Das Grundgesetz gilt und sonst gar nichts.

Zum Abschluss wollte ich nochmal kurz auf Dein allgemeines Forschungsthema kommen. Du hast ja viel zu Vorurteilen geforscht – Ich will es mal anders herum aufziehen: Haben Minderheiten in einem Land auch Vorurteile gegenüber Mehrheiten?

Ja natürlich. Minderheiten ziehen sich dann unter Umständen auch daran hoch. Das ist ja ein Mechanismus: je schlechter die Minderheit behandelt wird, desto mehr tröstet sie sich mit Erzählungen und Vorstellungen, wie böse und wie abscheulich die Mehrheit ist. Das ist natürlich derselbe Mechanismus. Ich denke es ist ein Urbedürfnis der Menschen: man muss Feinde haben, man muss welche haben, die anders sind, die böse sind, denn dann ist man selber auf der guten Seite. Das ist gut für das Selbstbewusstsein. Deshalb grenzt man Juden oder Sinti und Roma oder Muslime aus und schreibt ihnen Eigenschaften zu, die sie nicht haben, aber die sie haben sollen, damit man sie ausgrenzen kann. Und das stärkt das eigene Selbstbewusstsein ganz ungemein, denn dann haben wir, die wir uns darüber verständigten, dass Frauen mit grünen Haaren ganz böse sind, eine stabile Gemeinsamkeit, die uns Heimatgefühle und Zusammengehörigkeitsgefühl verleiht. Und dann können wir sehr befriedigt und beruhigt auf die Anderen schauen, die ja so blödsinnige Sitten und Gebräuche haben. Und das gilt natürlich nicht nur im Verhältnis Mehrheit-Minderheit, sondern das gilt auch zwischen Minderheiten untereinander, weil da derselbe Mechanismus funktioniert. Das ist auch so ein Wunschbild, den man dann in der Mehrheit hat: die Minderheiten müssen aber doch friedlich und freundlich miteinander sein. Wenn man dann beispielsweise ein soziales Projekt macht für eine Bevölkerungsgruppe, also eine Minderheit, die man für homogen hält. Etwa die Vietnamesen in Berlin: die einen leiten sich von den »Boat People« im Westen ab, die anderen von Vertragsarbeitern der DDR, die haben erst mal nichts miteinander zu tun, und die mögen sich dann möglicherweise auch untereinander gar nicht. Aber die Mehrheit denkt erst mal: ›Minderheit? Die müssen doch gleichartig sein, die müssen sich doch vertragen. Dass die jetzt unterschiedliche Standpunkte haben, dass in der jüdischen Gemeinde so viel gestritten wird, das ist doch unerhört, die sind doch alle dasselbe, die sollten sich zuerst mal untereinander vertragen.‹ Es ist ein Wunschbild, das mit psychologischen und emotionalen Realitäten überhaupt nichts zu tun hat.

Werden wir als Menschen immer Vorurteile haben?

Ich fürchte ja, wir werden als Menschen immer Vorurteile haben. Sie erleichtern ja auch in mancher Beziehung das Leben. Solange das kontrolliert bleibt. Solange das nicht in Ausgrenzung, in Gewalt, in Ausplünderung, in Vertreibung endet, solange das nicht kriminell wird, können wir uns doch darüber verständigen, dass alle Iren erstens rote Haare haben, zweitens, dass sie saufen wie die Bürstenbinder und dass sie alle so rotgetüpfelt im Gesicht sind. Das stärkt unsere Gemeinsamkeit und auf diesem Level tut es noch niemandem weh. Erst wenn wir dann Eigenschaften zuschreiben und sagen: ›Alle Zigeuner stinken‹ oder so etwas, dann haben wir diesen schmalen Grat, auf dem das Vorurteil noch handhabbar ist und noch zur normalen sozialen Ausstattung gehört, verlassen. Also der alte Vorurteilsprofessor hätte eigentlich nur den Wunsch, dass man da möglichst frühzeitig, und zwar im Kindergarten um Gottes willen, anfängt. Da ist es auch ganz leicht, denn niemand wird mit Vorurteilen geboren. Ganz unterschiedliche kleine Mädchen und Buben im Kindergarten, die kommen glänzend – egal wie die Hautfarbe oder Religion ist – miteinander aus. Aber getrennt und geschieden, wird dann vom Elternhaus her: ›Du kannst doch nicht mit der spielen!‹ – Also der Kindergarten ist der erste Ort, an dem ganz energisch, klug und mit nachhaltigen Folgen gegen Ressentiments angegangen werden kann.

Was ist mit positiven Ressentiments? Also angenommen ich würde jetzt nicht sagen ›Alle Zigeuner stinken!‹, sondern ›Alle Zigeuner riechen nach Rosenblättern! Alle Juden sind per se super! Ich liebe alle Muslime, weil die total cool sind!‹ und so weiter. Also Philosemitismus – die anderen Begriffe kenne ich jetzt nicht – ist das schlimm?

Nein, das ist nicht schlimm, aber es bringt überhaupt gar nichts. Es vernebelt und verschleiert nur. Ich halte Philosemitismus für etwas ziemlich gefährliches, denn – und das gilt für alle anderen auch – der Philosemit liebt den Juden weil er Jude ist. Aber wehe der Jude erwidert diese Liebe nicht, die ihm entgegengebracht wird! Dann kippt das so schnell in Antisemitismus um, ja aus Enttäuschung: ›Jetzt habe ich mich doch so bemüht und jetzt habe ich doch die Versöhnungshand ausgestreckt, jetzt war ich so lieb zu den Juden, aber so sind sie nun mal eben, er hat davon nichts wissen wollen, er achtet meine hehre Anstrengung gar nicht.‹ – Also das ist sehr gefährlich und sehr zweischneidig. Wenn man also jetzt meint, mit positiven Ressentiments könne man negative bekämpfen.

Ein paar kurze Fragen und vielleicht Begrifflichkeiten noch zum Schluss. Was ist die am besten gestellte Minderheit in Deutschland und welcher Minderheit geht es am schlechtesten? Kann man das sagen?

Naja, den Obdachlosen, den Pennern auf der Straße geht es am schlechtesten. Die, die sozial abgestürzt sind.

Und wem geht es am besten?

Naja, vielleicht den Politikern, die mit Mandat und Diäten ausgestattet sind.

»Abendland« hast Du jetzt auch schon ein paar mal verwendet. Ist das Wort ein gängiger Begriff aus der Geschichte? Kannst Du uns das vielleicht nochmal definieren?

»Abendland« ist ursprünglich ein Kampfbegriff. Es gibt gar kein Abendland. Beziehungsweise: Wo liegt es denn? Das Abendland war immer nach Bedarf definiert. Das fing dann mal in Italien an und hat dann aber schon in Mitteleuropa aufgehört. Also das kann man beliebig definieren. So wie wir auch die Grenzen des »Morgenlandes« nicht so genau kennen. Das »Abendland« ist also auch so eine Chimäre, das gegen irgendwelche Leute, die das angeblich bekämpfen oder überrennen wollen, verteidigt werden muss. Das sind jetzt zum Beispiel die christlich-jüdischen Werte, die von Politikern so gerne im Mund geführt werden. 2000 Jahre war man im »Abendland« – wenn man das jetzt mit Europa gleichsetzt – damit beschäftigt, möglichst viele Juden totzuschlagen, sie auszuplündern, auszurauben, zu verjagen. Und jetzt, seit ungefähr 10, 12, 15 Jahren spricht man – weil es jetzt gegen die Muslime geht – mit scheinheillig verzerrtem Munde vom »christlich-jüdischen Abendland«, dessen Werte es gegen die bösen Muslime zu verteidigen gelte. Das »Abendland« ist ein schillernder und nicht fassbarer Begriff: ›Die ersten beiden Anstürme gegen das »Abendland«, das waren ja nur die Türken im 16. und 17. Jahrhundert, vorwiegend die Türken vor Wien – »die Türkengefahr« – da hat man also Gottseidank mit polnischer Hilfe den Ansturm der islamischen Horden, die das Abendland islamisieren wollten, abgewehrt.‹ Und die NPD – eine rechtsradikale Partei, die es bis vor wenigen Jahren hier in diesem Lande gab, jetzt hört man glaube ich nichts mehr von ihr – hatten dann den Slogan: ›Der Kampf vor Wien darf nicht umsonst gewesen sein!‹ – Was war wirklich? Was sagt Euch da der Historiker? Der Kampf um Wien oder die »Schlacht um Wien«, der »Kampf ums Abendland«, das war ein politischer Krieg, so wie immer politische Kriege geführt werden. Da ging es um Territorium, um Macht, um Einfluss, und nicht darum, Europa zu islamisieren. Da ging es um einen Interessenkonflikt zwischen dem Osmanischen Reich – also der Türkei – und dem Habsburger Reich – also Österreich-Ungarn. Da ging es nicht um Religion. Das wird nur schon seit langem behauptet, dass man da »der islamischen Gefahr entronnen sei.« Warum wären denn dann die katholischen Franzosen mit den Türken verbündet gewesen gegen Österreich-Ungarn, wenn es wirklich um die Islamisierung gegangen wäre?

Und habe ich das richtig verstanden: Wenn jetzt Menschen von christlich-jüdischem Abendland oder dem christlich-jüdischen Europa sprechen, dass das latent islamophob ist?

Das ist latent islamophob, ja.

Aber davon sprechen ja nicht nur AfDler, das hört man sogar von CDUlern und anderen.

Ja natürlich. – Das muss ich einem Journalisten nicht sagen, wie leicht es ist, einen Begriff in die Welt zu setzen. Und »jüdisch« klingt natürlich auch immer sehr gut. – Keiner von CDU oder SPD oder sonstige Politiker, die vom christlich-jüdischen Abendland und dessen Werten säuseln, weil es ihnen der Redenschreiber so hineingeschrieben hat, hat doch eine Ahnung über das, was er sagt. Er meint in Wirklichkeit Europa, die europäischen Werte müssen verteidigt werden; und ›Wir wollen lieber Sitzklo als Stehklo‹ und solche Sachen mag er im Hinterkopf haben. Aber das mit christlich-jüdisch, das muss man einmal geschickt lancieren und dann wird das wie in der Gebetsmühle weitergetrieben. Ein anderer negativer Begriff ist die »ethnische Säuberung«. Der ist nach diesem schrecklichen Genozid in Jugoslawien aufgekommen. Ich finde diesen Begriff grauenhaft, schon weil er unterstellt: eine Säuberung ist ja etwas notwendiges. Also Hitler hat dann eine ethnische Säuberung durchgeführt, wenn man das mal durchdenkt. – Man übernimmt also ganz wahnsinnig schnell neue Begriffe. Jeder redet von »Vernetzung«. Dieses Wort gab es vor ein paar Jahrzehnten überhaupt nicht. Kein Mensch, heute ist man »Netzwerker«. Und in jeder anständigen Festrede kommt das Wort »Vernetzung« mindestens 18 mal vor. Das ist jetzt also den Politikern ins Stammbuch geschrieben, die dann solche anscheinend gesetzten Begriffe ohne weiteres Nachdenken benutzen. So wie auch ohne weiteres Nachdenken manche Leute von »polnischen Konzentrationslagern« gesprochen haben, damit natürlich deutsche Konzentrationslager auf polnischem Boden meinten, und gar nicht ahnten, wie stark sie damit die polnische Regierung erzürnen.

Also empfehlen wir unseren Zuschauern: Achtet auf Eure Sprache. Und wer nicht islamophob ist und sein will, sollte vielleicht nicht vom christlich-jüdischen Abendland sprechen.

Ja, oder sollte überhaupt immer nachdenken, wenn er so einen Begriff verwendet: Woher kommt der denn und was wird damit beabsichtigt? Das gilt für Zionismus und alles Mögliche genauso. Einfach ein kleines bisschen nachdenken, bevor man mit irgendwelchen Begriffen losplappert.

Wolfgang, danke für Deine Zeit. Es war sehr interessant. Danke an Euch für Eure finanzielle Unterstützung, Ihr macht das hier alles möglich. Tschau.

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