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Bundeskanzlerin für Desinteressierte: BPK mit Angela Merkel vom 20. Juli 2018

Thema: Aktuelle Themen der Innen- und Außenpolitik

Naive Fragen zum NSU (ab 22:18 min)
– Frau Merkel, ich will auch noch einmal etwas zur NSU fragen. Da hatten Sie ja nicht nur angekündigt, dass alle Morde aufgeklärt werden, sondern auch, dass alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck daran arbeiten werden. Mich würde noch einmal persönlich Ihr Urteil dazu interessieren. Wie zufrieden sind Sie jetzt mit Ihrem Versprechen im Nachhinein?
– Ein Punkt wäre zum Beispiel in Hessen. Sie haben ja von allen zuständigen Behörden in Bund und Ländern gesprochen. In Hessen werden NSU-Akten jetzt 120 Jahre geheim gehalten, wahrscheinlich um zu vertuschen, welche Verbindung der Verfassungsschutz dort mit dem NSU hatte. Was halten Sie davon angesichts Ihres Versprechens? Ist für Sie persönlich Quellenschutz wichtiger als Aufklärung?

Fragen von Hans Jessen (ab 1:22:15 min)
– Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal auf das Thema Seenotrettung im Mittelmeer zu sprechen kommen. Wir haben eben angemahnt, dass auch zivile Seenotretter die libyschen Hoheitsgewässer respektieren müssen. Dies vorausgesetzt: Unterstützen Sie die Arbeit ziviler Seenotretter? Gerade die Deutschen beziehen sich ja unter anderem auch auf die Cap Anamur, die vor 40 Jahren vietnamesische Boatpeople rettete und damals vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sehr massiv unterstützt wurde. Gilt Ihre Wertschätzung für die Arbeit ziviler Seenotretter in vergleichbarer Weise heute?
– Sie haben im Bundestag erklärt, man müsse die libysche Küstenwache auch ihre Arbeit machen lassen. Nun gibt es auch aktuelle Berichte, laut denen zum Teil libysches Küstenwachpersonal daran beteiligt sei, Boote zu versenken, wobei Flüchtlinge ums Leben kommen. Die libysche Regierung kontrolliert bestenfalls ein Viertel der Lager. Ist es in dieser Situation nicht notwendig, dass auch zivile Organisationen außerhalb der Hoheitsgewässer weiterhin eigene Aktivitäten zur Seenotrettung mit deutscher Unterstützung leisten?

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Komplettes Wortprotokoll vom 20. Juli 2018:

Vorsitzender Dr. Mayntz: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herzlich willkommen in der Bundespressekonferenz zu einer weiteren Pressekonferenz mit der Bundeskanzlerin. Es ist die 23. in ihrer Amtszeit. Wir freuen uns, dass Sie wieder hier sind. Sie haben das Wort!

BK’in Merkel: Gut, dass einer mitzählt. Das hätte ich jetzt nicht gewusst.

Guten Tag, meine Damen und Herren! In der Tat ist diese sommerliche Begegnung schon eine Tradition. Ich möchte mich bei der Bundespressekonferenz für die Einladung bedanken. Letztes Jahr standen wir kurz vor der Bundestagswahl. Heute treffen wir uns vier Monate nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung. Daraus können Sie ermessen, dass die Regierungsbildung relativ lange gedauert hat. Ich möchte mich zu diesem Zeitpunkt deshalb gern Ihren Fragen stellen.

Vorher einige einführende Bemerkungen:

Es liegen ereignisreiche Monate, auch arbeitsreiche Monate, hinter uns. Wir haben sie als neue Bundesregierung genutzt, um Entscheidungen zu treffen, die ganz konkrete Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen in unserem Lande mit sich bringen. Wir haben ja im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir uns die Themen vornehmen und anpacken, die die Menschen auch im Alltag bewegen, die den sozialen Zusammenhalt stärken und die auch helfen, entstandene Spaltungen zu überwinden. Wir wollen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass der Wohlstand nicht nur bei einigen, sondern bei möglichst allen ankommt, und gleichzeitig die Weichen für die Zukunft richtig stellen. Wir werden uns dann daran messen lassen, wie weit wir vorangekommen sind und wo wir spürbare Veränderungen vorgenommen haben.

Ich glaube, dass die Kabinettsitzung dieser Woche, über die Ihnen ja schon berichtet wurde, beispielhaft für das steht, was wir uns vorgenommen haben. Da geht es erstens um Teilhabe für alle. An diesem Mittwoch haben wir ein Programm beschlossen, um gerade Langzeitarbeitslosen zu helfen, wieder in Arbeit zu kommen – einerseits durch finanzielle Unterstützungen, sogenannte Zuschüsse, für die Arbeitgeber, aber auf der anderen Seite auch durch sehr individuelle Betreuung für jeden einzelnen Betroffenen.

Zweitens geht es um die Weichenstellung für die Zukunft. Dafür ist jetzt am Mittwoch die Strategie für die künstliche Intelligenz beispielhaft gewesen, also eine nationale Strategie, die sich dann natürlich auch in europäische Vorhaben einfügen muss. Wir sind der Meinung, dass wir hier Aufholbedarf haben. Deshalb sind die Eckpunkte beschlossen worden. Die Strategie wird dann bis zu einem speziellen Digitalkabinett im November fertig sein.

Wir haben gleichermaßen beschlossen – das halte ich für sehr, sehr wichtig -, Planungsvorhaben zu beschleunigen. Wir haben inzwischen Geld für Investitionen, aber nicht immer die Möglichkeit, dass dieses Geld auch abfließt, weil Planungsvorgänge zu langsam sind. Deshalb haben wir jetzt sehr schnell nach Beginn der Arbeit der Regierung dieses für mich zentrale Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag auf den Weg gebracht.

Drittens. Natürlich war eine der klaren Botschaften der Bürgerinnen und Bürger, dass wir noch mehr Ordnung und Steuerung der Migration brauchen. Die Tatsache, dass wir neue sichere Herkunftsländer definiert haben – die nordafrikanischen Länder, aber auch Georgien -, zeigt: Auf der einen Seite wollen wir denen, die Schutz brauchen, auch Schutz geben. Aber auf der anderen Seite wollen wir auch denen gegenüber, die keinen Anspruch auf Hilfe haben, dieses sehr schnell klären und nicht Hoffnungen wecken, die dann nicht eingelöst werden können. Es hat sich also an diesem Kabinett ein wenig beispielhaft gezeigt, was uns wichtig ist.

Wir haben in diesen vier Monaten zwei Haushalte beschlossen – den für 2018, den für 2019. Ich will vielleicht symbolisch sagen: Die Tatsache, dass wir einen ausgeglichenen Haushalt haben, scheint jetzt schon der Normalität anzugehören. Das ist aber nach wie vor eine große Kraftanstrengung. Wir haben damit auch erreicht, dass der Teil des Haushalts, der für Schuldendienst aufzuwenden ist, deutlich gesunken ist. 1999 mussten wir noch 16,7 Prozent ausgeben, um den Schuldendienst für schon gemachte Schulden zu bedienen. Heute – unter natürlich anderen Bedingungen, auch mit anderen Zinsen – sind das nur noch 5,5 Prozent. Wir werden im nächsten Jahr oder vielleicht schon in diesem Jahr die 60 Prozent der Gesamtverschuldung erreichen. Das ist wichtig, weil das ja auch ein Zukunftskriterium für den Maastricht-Pakt ist. Denn gerade ein Land mit so großen demographischen Herausforderungen wie Deutschland darf nicht zu viel Gesamtverschuldung haben. Deshalb sind das gute Botschaften.

Wir werden in dieser Legislaturperiode über 40 Milliarden Euro mehr als in der letzten Legislaturperiode zur Verfügung haben, um Maßnahmen für die Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Wir haben einen Schwerpunkt bei den Familien gesetzt. Wir haben jetzt schon ein höheres Kindergeld und einen höheren steuerlichen Freibetrag für Kinder vereinbart. Wir haben die Brückenteilzeit, also die Rückkehr aus Teilzeit in Vollzeit, auf den Weg gebracht. Wir haben das Baukindergeld beschlossen. Wir arbeiten intensiv an einem Gesetz für verbesserte qualitative Bedingungen im Kita-Bereich.

Wir konnten zum achten Mal in Folge verkünden, dass sich die Renten erhöhen. Wir sind natürlich gleichermaßen dafür verantwortlich, die Altersversorgung auch zukunftssicher zu gestalten. Deshalb haben wir die dazu gehörige Kommission eingesetzt wie übrigens eine Vielzahl anderer Kommissionen auch, die bis 2020 ihren Bericht vorlegen soll, wie sich denn das Rentensystem nach 2024 weiter entwickeln wird.

Für uns sind die Fragen, die Menschen im Alter bewegen, von besonderer Bedeutung. Ich habe ja in den letzten Tagen selber ein Pflegeheim besucht. Wir können sagen, dass wir mit der „konzertierten Aktion Pflege“ von drei Ministerien – dem Gesundheitsminister, der ja für Pflege verantwortlich ist, dem Arbeitsminister und der Familienministerin – einen Schwerpunkt gesetzt haben, um sowohl die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern als auch die Personalausstattung zu verbessern. Das Pflegestärkungsgesetz sagt uns, dass 13 000 neue Stellen jetzt sehr schnell geschaffen werden, und wir werden die Ausbildung auf völlig neue Grundlagen stellen. Das ist ganz wichtig, um die Attraktivität des Pflegeberufs deutlicher zu machen.

Das alles ist jetzt natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit für die Maßnahmen, die wir im sozialen Bereich ergreifen. Aber es gibt Ihnen einen Einblick, was auf den Weg gebracht wurde, was geplant ist.

Wir haben einen zweiten Schwerpunkt im gesamten Bereich der digitalen Agenda gesetzt. Hierzu haben wir auch die Strukturen in der Bundesregierung verändert. Sie wissen, wir haben im Kanzleramt eine koordinierende Funktion, auch mit der Staatsministerin für Digitalisierung. Wir haben jetzt ein Digitalkabinett geschaffen, das auch schon getagt hat. Wir werden eine Klausurtagung vornehmen und als Bundesregierung auch Beratung durch einen Digitalrat bekommen.

Erneuerung und Zusammenhalt sind also die großen Themen neben den außenpolitischen Herausforderungen. Sie wissen, dass wir uns ganz intensiv mit Europa beschäftigt haben, auch gerade mit der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Ich glaube, diese Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, Europa auch an den Punkten arbeiten zu lassen, die für die globale Ordnung von Bedeutung sind, das wird in den nächsten Jahren von ganz besonderer Wichtigkeit sein. Aber das möchte ich jetzt hier nicht im Detail ausführen, sondern damit schließen.

Ich freue mich jetzt auf Ihre Fragen und werde versuchen, sie gut zu beantworten. Die Arme gehen ja auch schon hoch.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben jetzt innenpolitische Projekte erwähnt, aber ich möchte gleich auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, nämlich den US-Präsidenten, weil er ja die Weltordnung doch etwas verändert. Es hat jetzt mehrere Beispiele gegeben, dass er sich nicht an Zusagen hält, die er gemacht hat, in schriftlicher oder mündlicher Form. Zu nennen sind das Abrücken von der G7-Erklärung und jetzt nach der Pressekonferenz mit Trump die Korrektur dessen, was er dort gesagt hat. Deswegen hätte ich ganz gern von Ihnen gewusst: Haben Sie überhaupt noch eine gemeinsame Basis für Absprachen mit dem US-Präsidenten? Wieso können Sie sich darauf verlassen, dass das steht, was er gesagt hat?

Eine kleine Zusatzfrage zu Thyssenkrupp: Sind Sie eigentlich der Meinung, dass die Zerschlagung des Konzerns den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft entspricht?

BK’in Merkel: Ich glaube, man kann schon sagen, dass der bewährte oder uns gewohnte Ordnungsrahmen im Augenblick stark unter Druck steht. Dennoch ist die transatlantische Zusammenarbeit auch mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika natürlich zentral für uns. Ich werde sie auch weiter pflegen.

Es ist so, dass das, was mir wichtig ist, was mir in meiner ganzen politischen Arbeit immer wichtig gewesen ist – Multilateralismus, die feste Überzeugung, dass wir, wenn wir zusammenarbeiten, Win-win-Situationen, also Vorteile für alle, schaffen können -, im Augenblick nicht immer das herrschende Prinzip ist. Trotzdem wird mich das jetzt nicht davon abbringen, weiter dafür zu werben. Ich glaube, nur so können wir vorankommen.

Wenn wir uns einmal die Europäische Union anschauen, dann ist ja Europa im Grunde das Paradebeispiel dafür, dass wir zu 28 oder in Zukunft vielleicht zu 27 miteinander zusammenarbeiten. Wir glauben, dass wir davon alle profitieren. Deshalb werde ich das auch im internationalen Rahmen weiter eingeben. Aber es ist nicht so selbstverständlich, wie wir das in den vergangenen Jahren gewohnt sind. Deshalb muss man im Zweifelsfalle auch stärker über den richtigen Weg streiten.

Was Thyssenkrupp anbelangt, so sind das jetzt natürlich Entscheidungen, die ein Unternehmen zu treffen hat. Ich persönlich schließe mich der Meinung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten an, der ja auch dafür wirbt, dass Thyssenkrupp ein möglichst breit aufgestelltes Gremium ist. Aber zum Schluss ist es eine wirtschaftliche Entscheidung.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, mich würde interessieren, welche Erwartungen Sie an das Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben, das ja jetzt recht kurzfristig nach der Koalitionseinigung kommen soll. Soll das nur den Status quo festschreiben, wie es im Koalitionsvertrag klang, also die bestehenden Regelungen zusammenfassen und schlüssig verbinden oder so ähnlich? Oder soll es etwas qualitativ Neues bringen, zum Beispiel ein Punkte-System? Welches Signal soll Ihrer Ansicht nach davon ausgehen?

BK’in Merkel: Über die Methodik haben wir noch nicht gesprochen. Aber dieses Fachkräftezuwanderungsgesetz soll nicht nur die Dinge zusammenfassen, sondern, ich glaube auch, da Möglichkeiten der Gewinnung von Fachkräften eröffnen, wo wir heute noch keine guten Möglichkeiten haben.

Ich glaube, das ist schon ein zentrales Projekt. Deshalb finde ich es auch gut, dass wir gesagt haben, wir wollen da bis Jahresende die Dinge auf den Weg bringen.

Warum ist es wichtig? Erstens. Weil Deutschland trotz der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, wodurch wir ja jedes Jahr Hunderttausende Arbeitskräfte aus anderen Ländern bekommen, Fachkräftemangel hat. Trotz der europäischen Regelung der Blue Card, die wir ja schon haben – aber mit Einkommensgrenzen, oberhalb derer dann Fachkräftezuwanderung möglich ist -, haben wir, zum Teil gerade in einfachen Berufen, einen großen Mangel an Fachkräften. Deshalb messe ich diesem Gesetz eine große Bedeutung zu.

Zweitens ist es für mich auch ein Ergänzungsstück des Kampfes gegen illegale Migration. Wir haben mit den Ländern des westlichen Balkans ja sehr gute Regelungen gefunden, nachdem wir sie a) zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, also die Prozesse der Beantragung von Asyl sehr viel schneller abgearbeitet werden konnten. Aber wir haben eben nicht nur Ausreisen notwendig gemacht oder zum Teil auch freiwillige Ausreisen ermöglicht, sondern wir haben auch gesagt: Wer in Deutschland einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat die Möglichkeit, legal nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, dieses Ergänzungsstück kann prototypisch auch für Vereinbarungen mit anderen Ländern sein.

Also, beim Fachkräftezuwanderungsgesetz oder -einwanderungsgesetz geht es um eigene deutsche Interessen. Aber sie können so ausgestaltet werden, dass sie wiederum zu Partnerschaft oder Abkommen mit anderen Ländern führen können und sind deshalb für die Frage der Ordnung und Steuerung der Migration durchaus von Bedeutung.

Frage: Letzte Woche ging ja nach fünf Jahren der NSU-Prozess zu Ende. Die Angehörigen der Opfer gingen sehr enttäuscht aus dem Gerichtssaal. Können Sie ihre Gefühle nachempfinden?

BK’in Merkel: Ich kann insgesamt die Gefühlslage der Familien nachempfinden. Denn ein Gerichtsprozess, der ein großer intensiver Gerichtsprozess war, der auch mit harten und nach meiner Meinung gerechtfertigten Strafen geendet hat, kann natürlich das Leid und auch die Frage nach dem gesamten gesellschaftlichen Umfeld einer solchen Erfahrung nicht allein wiedergutmachen. Deshalb gab es Untersuchungsausschüsse. Deshalb gab es eine Vielzahl von Maßnahmen, die aus den Untersuchungsausschüssen – auf der Bundesebene zumindest schon – nicht nur formuliert wurden, sondern zum allergrößten Teil auch umgesetzt wurden. Deshalb wird teilweise immer noch in den Bundesländern gearbeitet, und deshalb haben die Angehörigen der Opfer auch ein Recht darauf, dass die gesellschaftliche Diskussion, wie so etwas passieren konnte, weiter geführt wird. Nur daraus kann dann insgesamt vielleicht eine gewisse Befriedung entstehen. Aber das ist ein so schwerwiegendes und auch eingreifendes Erlebnis für diejenigen, die das erleben mussten, dass die Gesellschaft sich insgesamt damit noch lange wird beschäftigen müssen.

Zusatzfrage: Sie haben ja eine lückenlose Aufklärung versprochen. Sie blieb aber aus. Ist die NSU-Akte für Sie somit geschlossen?

BK’in Merkel: Ich habe ja deutlich gemacht, dass sie für mich nicht geschlossen ist, weil meine Aufgabe gerade noch einmal in einer anderen Dimension liegt. Sie liegt ja nicht darin, Gerichtsverfahren durchzuführen, sondern sie liegt darin, das gesamte Umfeld aufzuklären, dafür Sorge zu tragen, dass die Sicherheitsbehörden besser kooperieren, besser zusammenarbeiten, damit wir wirklich sicher sein können, dass so etwas nicht wieder geschieht. Daran wird noch weiter zu arbeiten sein.

Frage: Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich habe auch eine Frage zur NSU. Es gab falsche Aussagen, Leugnung von Wissen, Urkundenfälschungen, massive Fehlleistungen. Ich würde gern wissen: Nicht in einem einzigen Fall ist bei der Polizei, bei der Justiz und bei der Verfassungsschutzbehörde ein Dienstverfahren wegen Strafvereitelung im Amt eröffnet worden. Ist das für Sie nachvollziehbar?

BK’in Merkel: Ich kann jetzt wieder nur aus meiner Perspektive sagen: Wir haben in vielen Fällen die Arbeitsweise der Behörden grundlegend geändert. Verantwortlich bin ich ja auch für die Sicherheitsbehörden des Bundes. Aber wir haben auch mit den Ländern sehr intensiv zusammengearbeitet. Deshalb glaube ich, dass wir aus diesen schrecklichen Erfahrungen vieles gelernt haben und wir vieles inzwischen auch besser machen. Das ist kein abgeschlossener Prozess, sondern das wird immer noch weiter gehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage: In der Union gibt es jetzt neben einigen Erzkonservativen auch eine liberale Basisbewegung, die Union der Mitte. Warum erscheint das unter einer Kanzlerin und Bundesvorsitzenden Merkel nötig? Wie erklären Sie sich das, diese Erosion? So würde ich es sagen.

BK’in Merkel: Nein, das würde ich nicht sagen. Das sind Initiativen. Sie hat es auch immer einmal wieder gegeben, wenn sich verschiedene Flügel oder Strömungen innerhalb einer Volkspartei artikulieren wollten. Dass es davon jetzt nicht nur eine gibt, sondern auch eine zweite, das empfinde ich eher als ein Zeichen von Aktivitäten, also dass sich Mitglieder einfach artikulieren wollen und gleich gesonnene Mitglieder suchen. Gerade in Zeiten der sozialen Medien sind solche Initiativen natürlich ganz anders und viel einfacher handhabbar. Insofern ist das für mich eher ein Ausdruck von Lebendigkeit.

Frage: Frau Merkel, da Sie vom Zusammenhalt der Gesellschaft als zentrales Ziel der Regierung gesprochen haben, welchen Anteil hat die Union mit ihrem Flüchtlingsstreit an der Spaltung der Gesellschaft? Wenn Sie sich die Sprache im politischen Diskurs auch in den Unionsparteien ansehen – auch die Verächtlichmachung oder massive Infragestellung von Justiz, auch von Presse, auch Ihrer eigenen Regierungspolitik -, wie sehr hat der Rechtspopulismus Ihrer Meinung nach eigentlich schon das Ruder übernommen?

BK’in Merkel: Wir stehen immer vor der Frage, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab oder auch geben wird – das ist ja nicht das letzte Mal, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt -: Soll so ein Streit ausgetragen werden? Soll darüber eine Auseinandersetzung geführt werden? Dazu sage ich ein klares Ja.

Ist das nachvollziehbar, was wir dort diskutiert haben? – Da würde ich sagen: Die Tonalität war oft sehr schroff. Ich messe der Sprache auch eine sehr, sehr große Bedeutung zu. Ich persönlich werde mich immer wieder sehr gegen bestimmte Erosionen von Sprache wenden, weil ich glaube, dass es auch Ausdruck von Denken ist. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein. Ich glaube, das haben ja auch einige jetzt schon versucht zu beherzigen. Das ist ein Ausdruck politischer Kultur. Er kann Spaltung auch befördern.

Aber jede Art von Auseinandersetzung, von Streit, nun zu vermeiden, damit die Gesellschaft nicht gespalten erscheint – ich glaube, Versöhnung in einer Gesellschaft kann nur durch das Austragen von Meinungsverschiedenheiten geschehen. Die Form, in der das passieren muss, ist sicherlich noch verbesserungsfähig.

Zusatzfrage: Stimmt es Sie nachdenklich, dass 60 Prozent der Bevölkerung eine längere Kompromisssuche nicht für eine gute Idee halten und sie mehr auf eine starke Führung durch starke Männer oder vielleicht auch Frauen setzen?

BK’in Merkel: Ich denke, dass wir dafür werben müssen – ich werde es jedenfalls weiter tun -, dass Kompromisse notwendig sind und das Finden von Kompromissen zum Teil eine gewisse Zeit dauert. Das darf nicht endlos sein. Es muss zu Ergebnissen kommen. Die Ergebnisse müssen auch klar sein. Aber aus meiner Sicht ist das in einer komplizierten Welt absolut notwendig. Eigentlich kann das jeder schon bei sich zuhause erkennen, wenn man zum Beispiel Meinungsbildung in Familien verfolgt. Je größer sie sind, umso komplizierter werden sie auch. Da ist Politik im Grunde für eine ganze Gesellschaft von der Methodik her nichts anderes. Wenn jeder zu Wort kommen soll, wenn jeder seine Meinung ausdrücken können soll, dann muss auch eine bestimmte Zeit für diese Meinungsfindung gegeben werden. Ich werde immer dafür werben, dass ein Kompromiss eine vernünftige Sache ist.

Ich habe sehr oft gesagt: Kompromisse sind Ergebnisse, bei denen die Vorteile unter dem Strich die Nachteile überwiegen. Aber politische Entscheidungen sind selten Hundert-zu-Null-Entscheidungen, sondern es sind sehr oft Entscheidungen, die dann als Ergebnis eines längeren Diskurses getroffen werden, und dieser Diskurs gehört dazu. Ich werde in meiner politischen Arbeit dafür werben, dass nicht alles in der ersten Sekunde entschieden sein kann. Dann näherten wir uns sehr autokratischen Methoden.

Frage: Frau Merkel, ich will auch noch einmal etwas zur NSU fragen. Da hatten Sie ja nicht nur angekündigt, dass alle Morde aufgeklärt werden, sondern auch, dass alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck daran arbeiten werden. Mich würde noch einmal persönlich Ihr Urteil dazu interessieren. Wie zufrieden sind Sie jetzt mit Ihrem Versprechen im Nachhinein?

BK’in Merkel: Ich sage einmal: Wir haben das, was wir normalerweise tun, sehr intensiv getan. Wir haben einen Untersuchungsausschuss gehabt. Wir haben danach als Regierung, ich glaube, 47 Maßnahmen vorgelegt bekommen, die wir umzusetzen haben. Das haben wir getan. Wo immer sich noch einmal eine Lücke ergibt, wo immer neue Erkenntnisse sein werden, werden wir wieder handeln. Deshalb betrachte ich das auch nicht als ein abgeschlossenes Kapitel.

Es bleibt die Frage im Raum – und die kann man im Grunde nur dadurch beantworten, dass so etwas nicht wieder passiert -: Wie konnte ein so komplexes schreckliches Vorgehen möglich sein, ohne dass die zuständigen Behörden es zwischenzeitlich gemerkt und längst aufgeklärt haben? Deshalb ist das ein sehr dunkler Fleck in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das ist überhaupt keine Frage. Deshalb darf man das Kapitel auch nicht einfach schließen.

Aber wir haben vieles getan. Wo immer ich darauf aufmerksam gemacht werde, Weiteres zu tun, werden wir das auch tun.

Zusatzfrage: Ein Punkt wäre zum Beispiel in Hessen. Sie haben ja von allen zuständigen Behörden in Bund und Ländern gesprochen. In Hessen werden NSU-Akten jetzt 120 Jahre geheim gehalten, wahrscheinlich um zu vertuschen, welche Verbindung der Verfassungsschutz dort mit dem NSU hatte. Was halten Sie davon angesichts Ihres Versprechens? Ist für Sie persönlich Quellenschutz wichtiger als Aufklärung?

BK’in Merkel: Quellenschutz ist ein Teil des Rechtstaates. Das wissen Sie, glaube ich, aus eigener Erfahrung auch gut. Aber das muss natürlich immer im Bereich der Verhältnismäßigkeit sein. Ich habe eben darauf hingewiesen. Mein Zuständigkeitsbereich – auf den will ich mich nicht zurückziehen, ich kann natürlich immer wieder mit Betroffenen in den Bundesländern sprechen – ist erst einmal die Bundesebene, für die ich auch verantwortlich bin. Ansonsten muss man mit den Ländern darüber sprechen. In den einzelnen Ländern sind ja noch nicht überall die Untersuchungen abgeschlossen. Insofern sage ich noch einmal: Das Kapitel kann noch nicht geschlossen werden.

Frage: Ich springe einmal zur Nahost-Politik. Inwieweit wird sich das sogenannte Nationalitätengesetz in Israel auf sie auswirken? Ist das für Sie persönlich noch Diskriminierung, oder trägt es schon Apartheidszüge? Denn es stimmt ja überhaupt nicht mit den seinerzeitigen Auflagen der Uno für die Staatsgründung Israels überein.

BK’in Merkel: Ich möchte mich in die inneren Angelegenheiten Israels nicht einmischen. Ich verfolge die Diskussion natürlich sehr aufmerksam. Ich bin der festen Überzeugung, dass es das Recht der Existenz für einen jüdischen demokratischen Staat gibt, im Übrigen zusammen mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat, woran wir immer noch arbeiten und wobei wir leider wenige Fortschritte sehen.

Es hat eine sehr intensive Diskussion gegeben. Ich denke, dass in dieser Diskussion sehr, sehr wichtig ist, dass der Minderheitenschutz als Teil der Demokratie auch eine wirklich wichtige Bedeutung hat. Das ist ja auch seit dem Gründungsaufruf für den Staat Israel so.

Deshalb kann ich schon verstehen, dass es jetzt eine sehr kontroverse Diskussion gibt. Aber es ist, wie gesagt, eine Diskussion in Israel, in die ich mich jetzt nicht direkt einmischen möchte.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, in zwei Wochen jährt sich das Nationale Forum Diesel. Die Expertengruppe, die eingesetzt worden ist und sich mit der Frage der Hardwarenachrüstung beschäftigen sollte und wollte, wird vermutlich nicht zu einem Abschlussbericht kommen. Wird die Bundesregierung trotzdem in absehbarer Zeit eine Entscheidung fällen, wie es mit Hardwarenachrüstungen aussieht?

BK’in Merkel: Ja, die Bundesregierung muss eine Entscheidung fällen. Ich habe jetzt das Zieldatum Ende September gesetzt. Wir haben die Gutachten. Wir haben die technischen Arbeitsgruppen. Wir haben noch keine Abschlussberichte dieser Arbeitsgruppen. Aber das kann nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden. Deshalb brauchen wir hierzu eine gemeinsame Haltung der Bundesregierung. Sie ist zurzeit noch nicht gegeben. Es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen, auch zwischen den Autoherstellern, dem Kfz-Gewerbe.

Wir müssen schauen, wie wir unter der Maßgabe der Verhältnismäßigkeit, der Notwendigkeit, Fahrverbote möglichst zu vermeiden, eine vernünftige Lösung finden. Ende September.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, welche Schlüsse ziehen Sie aus den Erkenntnissen über die russische Manipulation der öffentlichen Meinung in den USA für sich und für Deutschland?

BK’in Merkel: Für Russland ist die sogenannte hybride Kriegsführung, unter der man vielleicht auch Desinformation verstehen kann, erkennbar oder auch niedergeschrieben sozusagen ein festgelegtes Mittel, um zu agieren. Wir setzen alles daran, hier die richtige Faktenlage immer wieder darzustellen und zu argumentieren. Das haben wir in den vielleicht am sichtbarsten gewordenen Fällen wie im Fall Lisa oder dann auch zu unseren Soldaten in Litauen sehr schnell getan und haben damit, denke ich, auch gute Erfolge erzielt.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal auf den wochenlangen Streit um die Flüchtlingspolitik zurückkommen, der uns ja so lange gequält hat und der, wie ich fand, auch die Regierung fast an den Abgrund geführt hat. Frau Bundeskanzlerin, können Sie vor diesem Hintergrund eigentlich noch vertrauensvoll mit dem Bundesinnenminister zusammenarbeiten? Er hat immerhin Ihre Richtlinienkompetenz infrage gestellt.

BK’in Merkel: Sie haben das Schlüsselwort vielleicht schon genannt. Ich denke, dass es ganz wichtig ist – dafür bin ich ja verantwortlich -, dass eine Regierung handlungsfähig ist. Wir haben am Ende dieser Auseinandersetzung einen gemeinsamen Weg gefunden, der genau den Richtlinien entspricht, die für mich wichtig sind, dass man nämlich nicht einseitig, nicht unilateral, nicht unabgestimmt handelt und auch nicht zu Lasten Dritter. Das hat mich geleitet. Das halte ich auch für eine so fundamentale Frage, dass man das sozusagen zum Bereich der Richtlinienkompetenz mit hinzuzählen kann. Für mich ist der Maßstab – das haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes eigentlich gut geregelt -, dass Minister nur derjenige sein kann, der diese Richtlinienkompetenz akzeptiert. Dazu gibt es eine Geschäftsordnung der Bundesregierung.

Das Ergebnis unseres Disputes oder unserer Auseinandersetzung war, dass wir einen Weg gefunden haben, um das entsprechend diesen Richtlinien durchzusetzen. Darauf setze ich. Dann kann Zusammenarbeit funktionieren. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte Zusammenarbeit in einer Regierung nicht funktionieren.

Zusatzfrage: Können Sie nachvollziehen, dass viele sagen: „Diese vier Wochen Streit haben sehr viel Vertrauen gekostet und vor allem viel Politikverdruss befördert“?

BK’in Merkel: Ich glaube, dass das so ist und dass wir deshalb aufgefordert sind, durch weitere Arbeit zu zeigen, dass wir schwierige Probleme auch in einer anderen Tonalität lösen können. Trotzdem war der Gegenstand des Streites oder der unterschiedlichen Meinungen einer, um den es sich zu streiten lohnte. Die Frage, wie wir in Europa vorgehen, ob wir das einseitig machen, ob wir das unabgestimmt machen, ob wir das zu Lasten Dritter machen, ja oder nein, ist für mich eine zentrale Frage meiner Politik, und ich denke, auch mit Blick auf den Rest der Welt gibt es viele, viele gute Gründe, dass Europa zusammenhält. Diese Pressekonferenz findet am 20. Juli statt. Der 20. Juli ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte. Viele Menschen haben ihr Leben für Europa, für ein gemeinsames Europa gelassen. Das sehe ich schon als einen wichtigen Auftrag an, der im Übrigen auch schon in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegt ist.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben schon gesagt, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen noch sind. Aber Präsident Trump hat vor Kurzem gesagt – ich zitiere -: Die Europäische Union ist ein Feind. – Kann es sich die Europäische Union noch leisten, Freund und Verbündeter zu sein, wenn der Präsident sagt, die Europäische Union sei ein Feind?

BK’in Merkel: Aus meiner Sicht müssen wir es uns leisten, weil wir die Vereinigten Staaten von Amerika als einen wichtigen Partner sehen, auch wenn er aus unserer Sicht nicht immer eine Politik macht, in der wir immer gleiche Meinungen haben. Die Geschichte der transatlantischen Beziehungen zeigt ja, dass es dabei auch viele Konflikte gab. Aber es lohnt sich allemal, diese Konflikte zu lösen. Ich hoffe, dass wir auch weiterhin die Kraft dazu aufbringen. Deshalb kann ich mir diese Wortwahl nicht zu eigen machen. Ich habe einen anderen Ansatz.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, gehen Sie mit der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in allem konform, was zur Migrations-, Asyl- und Frontex-Politik vorgelegt wird?

BK’in Merkel: Maßstab für mich ist das, was wir in gemeinsamen Schlussfolgerungen niederlegen, so auch bei dem letzten Europäischen Rat, als Österreich die Präsidentschaft ja noch nicht hatte. Wir werden am 20. September ein informelles Treffen haben, bei dem es auch noch einmal um die Fragen der Migration geht.

Für mich ist natürlich wichtig, dass wir Außengrenzschutz betreiben. Aber ich habe die Sorge – ich habe das auch nach dem Europäischen Rat im Juni deutlich gemacht -, dass dieser Außengrenzschutz als ein völlig einseitiges Vorgehen verstanden wird. Ich glaube nach meiner persönlichen politischen Erfahrung, dass wir dies nur im Miteinander mit den Herkunftsländern tun können. Wir haben ja das EU-Türkei-Abkommen prototypisch verhandelt. Das war nur möglich, weil man mit der Türkei gesprochen hat. Deshalb muss man jetzt selbstverständlich auch mit den betroffenen afrikanischen Ländern sprechen und nicht über sie. Das habe ich auch nach dem Juni-Rat gesagt. Dieser Aspekt kommt mir manchmal etwas zu kurz, aber wir werden ihn auch weiter in die Arbeit der Europäischen Union und damit auch in die Arbeit der österreichischen Präsidentschaft mit einbringen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe zwei Fragen. Sie haben vorhin die Frage der Fachkräfte angesprochen. Sie werben jetzt Pflegkräfte aus Albanien und Kosovo an. Meine Frage ist: Wie würden Sie jetzt vorgehen? Welche konkreten Pläne gibt es dafür?

Meine zweite Frage ist: Die albanische Regierung aus Kosovo ist jetzt in Brüssel gewesen, um über die Visaliberalisierung mit Federica Mogherini zu sprechen. Auf der anderen Seite wird aber wieder eine Mauer in Mitrovica gebaut, der Stadt im Norden von Kosovo. Wie würden Sie diese Lage kommentieren? Kann Deutschland in Bezug auf die Visaliberalisierung Druck ausüben?

BK’in Merkel: Für die Visaliberalisierung haben wir eine klare Agenda, die von der Kommission vorgegeben wurde und die von uns auch unterstützt wird, was alles sichergestellt sein muss. Diese Agenda muss vom Kosovo abgearbeitet werden.

Auch für alle Fortschritte im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen haben wir klare Vorgaben sowohl im Blick auf Serbien als auch im Blick auf das Kosovo, was die serbische Minderheit und bestimmte Normalisierungsprozesse anbelangt. Insofern sind, denke ich, beide Roadmaps, wie man ja heutzutage sagt, also Pläne, das, wonach wir uns richten werden.

Was zum Zweiten die Pflegekräfte anbelangt, so bekommen schon seit geraumer Zeit jedenfalls in einigen Ländern des westlichen Balkans junge Menschen oder Menschen, die Interesse an Pflegeberufen in Deutschland haben – das fällt ja genau unter die Fachkräftefragezuwanderung -, ihre Ausbildung zum Teil schon dort vor Ort durch deutsche Institutionen. So wird man auch im Kosovo vorgehen und versuchen, Menschen, die interessiert sind, eine Chance auf eine Arbeit zu geben.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, wir haben eine Umfrage in Auftrag gegeben, wie zufrieden die Bürger bisher mit der Politik der Bundesregierung sind. Wir haben darum gebeten, auch Noten zu vergeben. Das Ergebnis ist allenfalls mittelmäßig bis ausreichend.

Was glauben Sie, warum die Bürger mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden sind?

BK’in Merkel: Wir haben ja schon über die letzten Wochen gesprochen. Ich denke, weder Sie noch ich sind über das Ergebnis vollkommen verwundert, weil doch ein Thema im Vordergrund stand, weil die Tonalität zum Teil auch recht harsch war und weil bei den Bürgerinnen und Bürgern vielleicht gar nicht richtig angekommen ist, dass wir auch die vielen Dinge, die ich zu Beginn dieser Pressekonferenz extra noch einmal vorgetragen habe, gemacht haben. Deshalb habe ich es heute noch einmal in den Vordergrund gerückt, dass sehr viel mehr Arbeit geleistet wurde, als vielleicht nach außen gedrungen ist. Aber das haben wir uns selbst zuzuschreiben. Deshalb werden wir schauen, dass wir Konflikte – die wird es, ich sage es noch einmal, auch weiterhin geben – so austragen, dass darüber die Ergebnisse nicht in den Hintergrund treten.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, was halten Sie angesichts dessen, was in Helsinki passiert ist, von der Einladung zu einem zweiten Treffen, die Donald Trump an Wladimir Putin geschickt hat? Halten Sie einen zweiten Gipfel für sinnvoll?

Wenn ich darf: Medienberichten zufolge fahren Sie dieses Jahr nicht nach Italien in den Urlaub. Hat das mit den politischen Entwicklungen in meinem Land zu tun?

BK’in Merkel: Zu meinen Urlaubsplänen sage ich grundsätzlich nichts und deshalb auch nichts in diesem Jahr. Das ist aber nichts Neues.

Zweitens: Ich finde, dass es wieder zur Normalität werden muss, dass sich russische und amerikanische Präsidenten treffen. Denn es ist ja richtig, dass wahrscheinlich 90 Prozent des Nuklearwaffenarsenals in den Händen dieser beiden Länder liegen. Schon allein aus Abrüstungsgründen gibt es viele Themen, die man dort besprechen muss, aber auch aus vielen anderen Dingen heraus. Deshalb freue ich mich über jedes Treffen.

Ansonsten kann ich die Einladung von zwei Staatschefs natürlich nicht kommentieren. Aber immer, wenn gesprochen wird, ist das im Grunde gut für alle – gerade wenn zwischen diesen beiden Ländern gesprochen wird. Dass seit, glaube ich, 2005 kein russischer Präsident mehr in den Vereinigten Staaten von Amerika war, muss ja nicht die Normalität sein.

Frage: Ich möchte noch einmal auf das transatlantische Verhältnis zu sprechen kommen. Jean-Claude Juncker reist nächste Woche nach Washington, um zu versuchen, einen drohenden Handelskrieg noch abzuwenden – Stichwort „Autozölle“. Was ist Ihre Erwartung? Kann das noch abgewendet werden?

Wie sollte die EU in dieser Frage – Stichwort „Handelskrieg“ – generell auf Donald Trump reagieren, eher mit Härte oder eher abgestuft nach dem Motto: „Wir halten uns Gegenmaßnahmen eventuell offen, aber wollen erst einmal verhandeln“? Was ist Ihre Strategie?

BK’in Merkel: Natürlich agieren wir nur, wenn Maßnahmen notwendig sind. Wir werden sie nicht schon vorfristig in Kraft setzen; das ist klar.

Was den Handel anbelangt, haben wir eine sehr ernste Situation auf der Welt; das will ich ganz deutlich sagen. Die große Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 konnten wir überhaupt nur deshalb bewältigen, weil wir nicht unilateral, sondern weil wir multilateral gehandelt haben. Wir haben damals das Format der G20 auf Ebene der Staats- und Regierungschefs eingeführt. Wir haben alle miteinander – Sie erinnern sich an den Übergang der Präsidentschaft von Bush zu Obama – Konjunkturprogramme aufgelegt. China hat damals einen großen Beitrag dafür geleistet, dass die Weltwirtschaft nicht in eine Rezession abgerutscht ist. Wir haben uns ein gemeinsames Regelwerk für Finanzinstitutionen gegeben und auch bestimmte Grundsätze definiert. Dieser Weg hat uns im Grunde aus einer extrem komplizierten Situation herausgeführt.

Deshalb glaube ich, dass wir jetzt an einem Punkt stehen, der auch dazu führt, dass die internationalen Organisationen wie der IWF die Wachstumsprognosen nach unten korrigieren. Wir haben schon erhebliche Zölle und auch Gegenmaßnahmen gegenüber China. Wir haben für Europa die Stahl- und Aluminiumzölle.

Gerade an der Automobilindustrie sieht man, wie eng die globalen Wirtschaftsketten miteinander verflochten sind. Wenn Zölle auf Autoexporte aus Amerika nach China erhoben werden, dann bedeutet das für deutsche Unternehmen letztendlich schon wieder, dass sie ihre Gewinnprognosen verändern müssen. Daran sieht man ja die ganze Verflechtung. Wir haben ja nicht nur Autos, die aus Europa nach Amerika exportiert werden, sondern wir haben ja auch über 400 000 Autos, die in Amerika hergestellt und im Wesentlichen in den Rest der Welt exportiert werden. Das größte BMW-Werk steht nicht in Deutschland, sondern in Spartanburg in South Carolina. Diese Verflechtung ist, denke ich, auch bei den Anhörungen in Washington zur Sprache gekommen. Deshalb sehen wir diese potenziellen Zölle in dem Bereich zum einen als Verstoß gegen WTO-Regeln, aber zum anderen eben auch als eine wirkliche Gefahr für die Prosperität vieler auf der Welt.

Deshalb ist die Reise von Jean-Claude Juncker aus unserer Sicht wichtig. Er wird dort Vorschläge machen, wie man in einen Gesprächsprozess kommen kann, um das abzuwenden. Ich will mich hier jetzt nicht mit Erwartungen oder Prognosen beschäftigen, sondern wir, alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, haben gesagt: Jean-Claude Juncker soll diese Reise nach Washington übernehmen. Wir werden einheitlich als Europäer auftreten. Dann müssen wir das Ergebnis der Gespräche abwarten.

Zusatzfrage: Wie soll die EU auftreten, eher hart oder eher konziliant?

BK’in Merkel: Sie soll die Dinge beim Namen nennen – das habe ich ja eben auch getan -, unsere Überzeugung, dass wir denken, dass das mit den WTO-Regeln nicht vereinbar ist. Wir wollen diese Zölle nicht. Wir glauben, dass wir uns gegenseitig schaden, dass nicht nur uns in der Europäischen Union geschadet wird, sondern dass das viel breitere Auswirkungen haben kann. Mit dieser klaren Position fährt Jean-Claude Juncker nach Amerika, um auch Möglichkeiten für Gespräche zu unterbreiten.

Wir haben im Grunde zwei Reaktionsmöglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, dass wir, wenn wir WTO-konform handeln wollen, zu einer breiten Palette von Produkten in Gespräche eintreten. Die andere Möglichkeit ist, dass wir uns mit den Vereinigten Staaten von Amerika sektoral in Bezug auf Zölle befassen. Dann müssen wir aber entsprechend dem WTO-Regime allen anderen Ländern der Welt, mit denen wir im Autobereich handeln, die gleichen Begünstigungen geben. Das sind die zwei möglichen Ansatzpunkte.

Jetzt wird man darüber reden, was möglich ist, in welchen Prozess wir eintreten können. Das ist unsere präferierte Vorgehensweise. Sollte das zu keinem Ergebnis führen, werden wir uns natürlich auch – Sie haben ja gehört, dass die Europäische Kommission daran arbeitet – mit Gegenmaßnahmen beschäftigen. Aber das ist die mit Abstand schlechtere Lösung.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zur politischen Kultur. Im Nachklapp des Helsinki-Gipfels erleben wir gerade, dass die Halbwertzeiten von Aussagen von Staats- und Regierungschefs relativ kurz geworden sind. Wenn ich mit Menschen in Russland rede, sagen diese mir, Lüge sei ein adäquates Mittel der Außenpolitik, ganz klar, Stichwort „grüne Männchen“.

Mich würde interessieren: Frustriert Sie das manchmal? Haben Sie das Gefühl, dass sich damit vielleicht auch etwas auf das deutsche System auswirkt, dass sich hier die politische Kultur nachhaltig verändert und Schaden nimmt?

BK’in Merkel: Ich denke, es gibt schon eine Veränderung in der politischen Kultur. Sie ist einerseits durch die völlig veränderten Möglichkeiten der sozialen Medien getrieben. Das ist gar keine Frage.

Ich denke auch, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns von allen Seiten, sowohl vonseiten der Politik als vielleicht auch von Ihrer Seite, vonseiten der Journalisten, mit der Frage der Verantwortlichkeit für richtige Meldungen beschäftigen. Denn eines ist auch klar: In dem Moment, in dem im Grunde jeder durch die sozialen Medien Teilhaber, Teilnehmer und auch Akteur im Informationsaustausch ist, ist die Verantwortlichkeit für die Richtigkeit einer Angabe natürlich viel weiter gestreut. Ich persönlich denke nicht, dass die Plattformen einfach sagen können, sie seien nichts weiter als ein physikalisches Bindeglied zwischen verschiedenen Akteuren, sondern dass jeder, der so große Plattformen betreibt, auch dafür verantwortlich ist, dass darauf bestimmte Standards eingehalten werden.

Aber das ist ein langer und weiter Weg, weil es dabei um globale Verbreitungen geht und man mit nationalen Einzelmaßnahmen natürlich nur bedingt etwas erreichen kann. Jeder kann jetzt ja nur seinen Beitrag dazu leisten. Ich denke, ich habe schon auf die Frage von der Kollegin gesagt, dass es mir sehr wichtig ist, dass ich umso mehr versuche, auf meine Sprache zu achten, präzise zu sein, dass natürlich auch die Fakten stimmen und dass sozusagen durch Beispielgebung versucht wird, diesen Prozess einer manchmal auch – so würde ich sagen – gewissen Verwahrlosung ein wenig im Zaume zu halten, weil ich glaube, dass es zwischen Denken, Sprechen und Handeln einen ziemlich engen Zusammenhang gibt.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zur EU-Asylrechtsreform. Österreich macht den Eindruck, als gehe es nur noch um Außengrenzschutz. Das heißt für Österreich auch die Schließung der Mittelmeerroute. Bei denjenigen, die ein Recht auf Asyl haben, stellt sich die Frage, wo sie dann noch unterkommen. Wenn die Frage der Verteilung durch die Ratspräsidentschaft Österreichs gar nicht geklärt wird, ergibt sich ja die Frage, wie das künftig geregelt wird.

Wirken Sie auf Österreich irgendwie ein, damit man sich doch wieder stärker um die EU-Asylrechtsreform kümmert?

BK’in Merkel: In der Tat steht der Außengrenzschutz im Augenblick sehr oft im Zentrum der Diskussionen. Er ist ja auch wichtig; das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber wie Sie an der deutschen Diskussion gesehen haben, ist auch die Ordnung und Steuerung der Sekundärmigration für uns wichtig.

Sie sehen jetzt an Italien, dass von dort aus die Frage der Lastenteilung oder der Aufgabenteilung wichtig ist. Für Italien war in den Schlussfolgerungen zum letzten Europäischen Rat zum Beispiel der zentrale Satz: Die Migration ist nicht nur Aufgabe eines Mitgliedsstaates, sondern sie ist eine Herausforderung für alle Mitgliedsstaaten. – Deshalb wird sich, denke ich, aus der unterschiedlichen Interessenlage der einzelnen Mitgliedsstaaten auch für die österreichische Präsidentschaft ganz automatisch die Aufgabe ergeben, sich mit verschiedenen Facetten der Migrationspolitik zu beschäftigen.

Aber richtig ist auch: Die Frage der Verteilung und die Frage der Solidarität unter den Mitgliedsstaaten ist natürlich sehr viel besser zu lösen, wenn man beim Außengrenzschutz Erfolge verzeichnen kann. Gleichzeitig ist das auch für die Flüchtlinge gut, weil dann nicht so viele Menschen ertrinken oder Schaden nehmen, gerade im Mittelmeer.

Insofern ist Außengrenzschutz für mich eben auch Entwicklungspolitik, auch Partnerschaft mit Afrika und vieles andere mehr. Andere beschäftigen sich eben mit den Fragen der Sekundärmigration. Ich denke, die Präsidentschaft muss und wird sich mit allen Fragen beschäftigen.

Frage: Es geht um den erheblichen Druck auf Deutschland seitens des amerikanischen Präsidenten wegen der Militärausgaben. Wie würden Sie dieses Problem lösen? Werden Sie F-35 aus Amerika bestellen und sagen, damit sei die Sache erledigt, oder werden Sie in die Militärforschung oder die Forschung für militärische Zwecke zum Beispiel in der Militärindustrie investieren? Wie werden Sie die zwei Prozent erreichen, die Herr Trump von Ihnen verlangt?

BK’in Merkel: Die zwei Prozent und die Entwicklung der Verteidigungsaufgaben jedes Mitgliedsstaates der Nato in Richtung dieser zwei Prozent sind ja keine neue Entwicklung, sondern das ist ein Beschluss aus Wales 2014, den wir noch unter der Präsidentschaft von Barack Obama und noch in ganz anderen Situationen gefasst haben, und zwar nicht deshalb, weil wir diese Zahlen so wichtig fanden, sondern weil wir gesehen haben, dass wir ganz neuen Herausforderungen gegenüberstehen. Es war die Zeit nach der Annexion der Krim, die Zeit nach dem Eingriff in die Ostukraine. Damals hat man gesagt: Es ist nicht nur so, dass wir durch die Nato so wie zum Beispiel in Afghanistan agieren müssen, sondern wir müssen auch dem Thema der Bündnisverteidigung wieder eine größere Bedeutung beimessen. Deshalb haben alle diese Entwicklung unterstützt.

Wenn man sich anschaut, welche Ausgaben wir an die Nato melden, also Nato-relevante Ausgaben, dann sieht man, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben von 2014 – damals waren es 34,7 Milliarden Euro – bis zum Jahr 2019, wofür jetzt der Haushaltsentwurf vorliegt, auf 46,3 Milliarden Euro erhöht hat. Sie sehen also, dass hier in wenigen Jahren, in fünf Jahren, ein erheblicher Aufwuchs stattgefunden hat. Das ist auch bitter notwendig, weil es gar nicht um irgendeine Aufrüstung geht, sondern im Grunde um eine vernünftige Ausrüstung unserer Bundeswehr.

Wir haben auf der einen Seite eigene europäische Waffensysteme, und wir haben auf der anderen Seite amerikanische. Wir haben jetzt zum Beispiel unsere Drohnen aus Israel geleast. Das heißt, wir agieren auf dem gesamten internationalen Markt je nach der Qualität und der Notwendigkeit. In den letzten anderthalb Jahren haben wir auch eine massive Stärkung unserer europäischen Verteidigungsinitiativen erlebt, und zwar durch die strukturierte Zusammenarbeit und durch die Schaffung eines Verteidigungsfonds, der auch dazu genutzt wird, gemeinsame europäische Waffensysteme zu entwickeln.

Wir haben in Europa zurzeit 178 Waffensysteme. Die Amerikaner haben weniger als 50. Daran können Sie auch ermessen, wie ineffizient unsere Gelder ausgegeben werden. Denn jedes Waffensystem bedarf einer speziellen Wartung, einer speziellen Ausbildung und ist nicht kompatibel mit dem Nachbarwaffensystem. Deshalb werden wir in den nächsten Jahren – man muss sagen: Jahrzehnten – auf eine Vereinheitlichung in Europa hinwirken. Wir werden zum Beispiel auch ein gemeinsames europäisches Kampfflugzeug entwickeln; nicht wie heute, wo wir den Eurofighter und gleichzeitig die Rafale haben, sondern hier wird es gemeinsame Entwicklungen geben.

Das kann auch für die Wettbewerbssituation gut sein, denn wir wissen zum Beispiel, dass die Gründung von Airbus im zivilen Bereich der Luftfahrt dazu geführt hat, dass wir heute zwei große Anbieter haben. Das ist, glaube ich, insgesamt für den Wettbewerb auf der Welt sehr gut. Das heißt, man muss sich nicht einseitig auf Systeme eines Herstellers konzentrieren, sondern ein gewisser Wettbewerb ist insgesamt gut. So werden wir in Europa vorgehen. Dort, wo es Gründe gibt, auch amerikanische Systeme zu kaufen, wird man das tun, aber wir haben auch einen eigenen europäischen Anspruch.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor ungefähr einem Jahr in München eine Rede gehalten und gesagt oder signalisiert, dass sich Deutschland und Europa nicht mehr auf die Vereinigten Staaten verlassen könnten und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen sollten. Manche beklagen, dass seitdem nicht viel geschehen sei. Verstehen Sie das und diese Kritiker?

Würden Sie sagen, dass Deutschland eine neue transatlantische Strategie braucht? Ist das irgendetwas, das sich die Bundesregierung überlegt?

BK’in Merkel: Ich glaube, dass der Satz wahr ist und sich auch durch die Ereignisse danach weiter bestätigt hat, dass wir uns nicht einfach auf die Ordnungsmacht und Supermacht Vereinigte Staaten von Amerika verlassen können. Ich finde, es ist auch legitim, dass Europa seine Rolle in der globalen Ordnung findet; denn die geographische Verortung Europas ist eine in einem ziemlich unruhigen Bereich der Welt. Wir haben nicht nur Russland als unseren Nachbarn, sondern wir haben vor allen Dingen auch den Mittleren und den Nahen Osten als unsere Nachbarn. Es gibt die Tatsache, dass der Kontinent, auf dem die wirtschaftliche Entwicklung am wenigsten so dynamisch stattgefunden hat, wie wir uns das wünschen, unser Nachbar Afrika ist, und das fordert Europa heraus. Ich verstehe in dem Sinne auch, dass die Vereinigten Staaten über Europa sagen: Ihr müsst in der Welt des 21. Jahrhunderts eine stärkere und gewichtigere Rolle bei der Lösung nicht nur militärischer, sondern auch politischer Konflikte einnehmen.

Dem wird Europa zum Teil gerecht. Ich finde, dass eine der beeindruckendsten und auch relativ zügig umgesetzten Dinge wirklich die strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich ist – nicht gegen die Nato, sondern als Stärkung der Nato, aber natürlich auch mit der Möglichkeit, alleine zu agieren. Ich glaube nämlich nicht, dass die Nato zum Beispiel bei allen Konflikten in Afrika eine Rolle spielen wird. Das, was wir jetzt in Mali machen, und Ähnliches sind ja Ausdruck dessen, dass man nicht einfach Frankreich damit alleine lässt, sondern dass es da auch mehr europäische Initiativen gibt.

Wir müssen eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderung der Migration finden. Da sind wir noch mitten im Prozess. Es ist ja unverkennbar, dass das Europa unter erhebliche Spannung setzt. Die Tatsache, dass man mehrere Stunden über den Satz diskutiert, dass die Migration nicht nur für ein einzelnes Mitgliedsland, sondern für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Herausforderung ist, zeigt ja, wie zerrissen wird da zum Teil auch noch sind. Aber ich glaube, für die Zukunft Europas – ich habe das oft gesagt – ist die Frage, ob wir das Migrationsthema in all seinen Facetten gemeinsam lösen können, von entscheidender Bedeutung.

Ich würde also sagen: Die Europäische Union ist in einem Transformationsprozess. Sie erkennt den Ernst der Lage an. Aber es ist noch nicht entschieden, ob wir den Herausforderungen schnell genug gerecht werden. Wir haben eine große wirtschaftliche Herausforderung – eines Tages sicherlich auch eine militärische – durch das Erstarken von China. Wir müssen unsere Beziehungen zu Russland ordnen. Wir haben also viel zu tun. Der Ordnungsrahmen auf der Welt verschiebt sich; das ist vollkommen klar. Das, was wir für viele Jahrzehnte für ganz natürlich gehalten haben, nämlich dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika als Ordnungsmacht für die ganze Welt verstehen – im Guten und im Schlechten, sage ich einmal -, ist so für die Zukunft nicht mehr gesichert, und deshalb kommen ganz andere Fragestellungen auf uns zu.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben bereits den Kabinettsbeschluss zu den sicheren Herkunftsländern angesprochen. Was erwarten Sie denn von den auch von Unionsministerpräsidenten geführten Landesregierungen an Druck auf die Grünen? Welche Appelle würden Sie an die Grünen richten, damit es nicht wieder wie in der letzten Legislaturperiode zu einer Hängepartie und einer Blockade im Bundesrat kommt?

Glauben Sie, dass die Absagen von Libyen und Tunesien an Einrichtungen in ihren Ländern das letzte Wort in dieser Frage sind?

BK’in Merkel: Die Absagen haben mich erst einmal nicht verwundert, weil ich ja mit Libyen und Tunesien schon selbst oft über solche Fragen gesprochen habe. Man wird immer weiter miteinander im Gespräch bleiben. Sie müssen sich einmal die Situation in Libyen vorstellen. Libyen haben wir ja im Grunde doch schon eine große Aufgabe zugewiesen, nämlich dass die libysche Küstenwache die Flüchtlinge, die sie an Land bringt, dann ja auch wieder beherbergen muss. Das tut sie zum Teil zusammen mit dem UNHCR und mit der Internationalen Organisation für Migration. Libyen ist ja durch seine schwache Staatlichkeit in eine Situation geraten, in der es wirklich ein Transitland für viele Herkunftsländer ist. Deshalb, glaube ich, hilft man Libyen am meisten, indem wir auch selbst mit den Herkunftsländern sprechen; denn Libyen selbst ist ja gar nicht das Herkunftsland.

Zweitens, wenn Sie immer von „Druck ausüben“ sprechen: Politik arbeitet daran, Lösungen zu finden. Das funktioniert nicht am allerbesten, indem man umso mehr Druck ausübt. Die Grünen in den Koalitionen haben bestimmte Überzeugungen, und jetzt geht es darum, mit Argumenten darum zu werben, dass man das, was wir für richtig halten, nämlich sichere Herkunftsländern in den genannten Fällen festzulegen, auch erreichen kann. Es gibt in den Koalitionen ganz klare Abreden dazu, wie man sich verhält, wenn ein Koalitionspartner nicht zustimmt. Diese Abreden nutzt die CDU sehr häufig in den Koalitionen, und dann kommt es zu einer Enthaltung des Landes. Jetzt werden die anderen Koalitionspartner – in diesem Falle die Grünen oder manchmal auch die FDP – das für sich natürlich auch in Anspruch nehmen. Insofern geht es um Argumente, um Überzeugung und darum, dass man miteinander spricht.

Der Bundesrat ist ein eigenständiges Verfassungsorgan, und seine Meinungsbildung ist genauso wichtig wie die Meinungsbildung des Bundestags. Die Zusammensetzung des Bundesrats ist sehr divers, und insofern werden wir intensive Gespräche führen müssen. Das werden die Ministerpräsidenten der Union auch tun – davon bin ich zutiefst überzeugt -, weil es unsere gemeinsame Überzeugung ist, dass wir diese sicheren Herkunftsländer brauchen. Das werden auch die Ministerpräsidenten der SPD tun. Aber Koalitionen werden nach einem bestimmten Prinzip geführt.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Donald Trump hat Deutschland mehrmals kritisiert. Warum, denken Sie, tut er das? Was hat er gegen Deutschland? Was denken Sie darüber, dass er Deutschland so explizit kritisiert?

BK’in Merkel: Ich nehme es erst einmal zur Kenntnis. Ich habe da jetzt nicht nach der Motivation geforscht, sondern ich versuche, mit meinen Argumenten zu antworten. Sicherlich haben wir ja sehr enge Verflechtungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, gerade, was den Handel anbelangt. Wir sind ein Land unter den europäischen Ländern, das sehr intensiv mit Amerika handelt, und deshalb sind wir vielleicht auch prototypisch für eine Gesamtsituation.

Ich glaube, dass wir Argumente austauschen müssen. Wenn zum Beispiel der Handelsüberschuss Deutschlands oder Europas gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika genannt wird, dann ist es wichtig, zu sagen: Das stimmt, wenn wir uns nur die Waren und die Güter anschauen. Wenn wir aber Dienstleistungen und die in die Vereinigten Staaten von Amerika zurücküberwiesenen Gewinne hinzuaddieren, wenn man sich also die Leistungsbilanz insgesamt anschaut, dann sieht das ganz anders aus. Dann haben wir eine ausgeglichene bis für die Vereinigten Staaten von Amerika leicht positive Leistungsbilanz. Die ist für mich relevanter. Solche Argumente versuche ich einzubringen.

Aber sicherlich hat das auch etwas mit unserer ökonomischen Größe zu tun. Ich habe immer wieder gesagt: Bei den Verteidigungsausgaben sind wir nicht in der Spitzengruppe der europäischen Länder. Viele Osteuropäer sind hier weiter, Großbritannien ist weiter, Frankreich ist besser. Das bedeutet eben, dass wir unseren Verteidigungsetat auch weiter steigern werden.

So versuche ich einfach, mich mit der Kritik auseinanderzusetzen, aber auch eine eigenständige, souveräne Antwort zu geben. Die stimmt nicht in allem mit den Betrachtungen des amerikanischen Präsidenten überein, und darüber haben wir uns ja auch intensiv ausgetauscht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, alle Ihre Vorgänger hatten es nicht in der Hand, Ihren Abschied irgendwann selbstbestimmt einzuleiten, weil es immer etwas gab, das sie davon abhielt, weil sie dachten, jetzt könnten oder dürften sie nicht gehen. Sind Sie mit sich und Ihrer Politik im Reinen, oder gibt es noch das eine große Thema, die eine große Herausforderung – zum Beispiel den Zusammenhalt der Gesellschaft -, die an Ihnen noch nagt, die Sie erledigen wollen?

BK’in Merkel: „An mir nagen“ ist ein schöner Begriff. – Sie haben ja eben schon an der Antwort auf die Frage nach der globalen Ordnung gesehen, dass ich glaube, dass wir im Augenblick in einer sehr interessanten, spannenden und auch die Zukunft sehr bestimmenden Zeit leben, weil sich doch einiges in der globalen Ordnung verändert. Deshalb erfordert die politische Tätigkeit für mich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland schon allerhöchste Aufmerksamkeit. Aber das sind ja Prozesse, die sicherlich weit über meine eigene Amtszeit hinausgehen. Ich kann nicht finden, dass ich im Augenblick nicht gefordert bin.

Ich habe gegenüber den Menschen in Deutschland im Zusammenhang mit der Bundestagswahl die Aussage getroffen, dass ich für diese Legislaturperiode zur Verfügung stehe. Alles andere wird man erst im Rückblick entscheiden können; darüber brauchen wir heute nicht zu spekulieren. Zu tun ist jedenfalls genug; das will ich deutlich mitteilen.

Das Wort „nagen“ beschreibt das eigentlich nicht, sondern das sind ja Aufgaben, die sich aus der Aufgabe ergeben, zu versuchen, für das Wohl des Landes das möglichst Richtige zu tun – natürlich mit anderen zusammen.

Zusatzfrage: Sie haben jetzt zweimal gesagt, dass die Weltordnung so unter Druck sei. Sie haben das beim Katholikentag im Mai einmal als einen Zustand beschrieben, der kurz vor Kriegsausbrüchen – Dreißigjähriger Krieg usw. – entstanden ist. Sie beschreiben ja noch etwas vorsichtig, dass die Weltordnung unter Druck geraten ist. Aber für wie gefährlich halten Sie diese Situation? Wie nah stehen wir an dem Abgrund, dass diese Ordnung, wie Sie damals sagten, „schwupp, im Eimer“ sein kann?

BK’in Merkel: Ich habe das eigentlich im Zusammenhang mit der Frage gesagt oder sagen wollen, ob wir aus der Geschichte gelernt haben. Wir haben uns sehr viel damit befasst, gerade wir als Deutsche, ob wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus und aus dem, wie die Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, etwas gelernt haben. Ich habe den 20. Juli schon erwähnt, der dafür auch ein ganz besonderer Tag ist.

Ich glaube, dass wir jetzt in einer Zeit leben, in der die Zeitzeugen dieser schrecklichen Phase deutscher Geschichte mehr und mehr sterben, in der wir als nachfolgende Generationen vor der Verantwortung stehen, richtige Entscheidungen zu treffen, und dass sich in dieser Phase entscheiden wird, ob wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben oder ob das von den zukünftigen Generationen sozusagen doch nicht so verinnerlicht wurde. Deshalb sind mir bestimmte Prinzipien so wichtig, über die sich jetzt ja auch eine ganze Auseinandersetzung entwickelt hat: Machen wir einfach aus Verzweiflung darüber, dass alles so langsam geht oder das es doch nicht so passiert, wie wir es wollen, jetzt auch unsere eigenen Dinge, oder fühlen wir uns auch dann, wenn es für uns schwierig ist, Europa wirklich verpflichtet? – Das ist für mich eine sehr grundsätzliche Frage.

In diesem Kontext meinte ich das. Wir können hier also zeigen, dass wir aus der Geschichte etwas gelernt haben.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch einmal zurück zum Streit mit Horst Seehofer: Das ist ja nicht nur eine Frage der Tonalität, sondern auch eine Frage der Autorität gewesen. Es ist ein bisschen der Eindruck entstanden, dass man als Minister und als Koalitionspartner so ziemlich alles tun kann, wenn es denn nicht Ihre Richtlinienkompetenz berührt. Wie wollen Sie dem entgegenwirken, dass eben der Eindruck entstanden ist, man könne erpressen und Ultimaten stellen, und solange das nicht direkt Ihre Richtlinienkompetenz betrifft, passiert auch nichts, unternehmen Sie auch nichts?

Ganz kurz eine zweite Frage, anschließend an die Frage von der Kollegin: Sie haben gesagt, dass Sie den Wählern versprochen haben, für diese Legislaturperiode zur Verfügung zu stehen. Können Sie den Wählern denn auch sagen, ob Sie für eine weitere Legislaturperiode definitiv nicht zur Verfügung stehen?

BK’in Merkel: Es gibt für alle Dinge einen geeigneten Zeitpunkt.

Was die erste Frage anbelangt, so habe ich ja von der Handlungsfähigkeit einer Regierung gesprochen. Die Frage, um die es ging, hat schon die Richtlinienfrage betroffen. Aber ich sage noch einmal: Es geht um das Handeln. Wir haben einen Kompromiss gefunden, entlang dessen wir jetzt handeln und der nach meiner festen Überzeugung auch von meinen Überzeugungen abgedeckt ist. Das ist das, was für mich entscheidend war.

Zusatzfrage: Ist die Frage, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass Ihre Autorität angekratzt ist, zweitrangig?

BK’in Merkel: Erstrangig ist, dass die Handlungen der Regierung entsprechend den Richtlinien, die die Bundeskanzlerin vorgibt, erfolgen. Der Einschätzung, dass Schaden entstanden ist und dass es deshalb besser wäre, man würde solche Meinungsunterschiede anders lösen, habe ich ja heute hier schon mehrfach zugestimmt. Aber wir haben sie gelöst, und die Regierung hat sich als handlungsfähig erwiesen – in einer Frage, die durchaus richtlinienrelevant war.

Frage: Der amerikanische Präsident hat sich ja in dieser Woche – Stichwort Montenegro – noch einmal zur Nato geäußert. Wie interpretieren Sie die Aussagen? Gehen Sie davon aus, dass er die Richtlinienkompetenz infrage stellt oder abschwächen will?

BK’in Merkel: Ich glaube, Sie meinen jetzt nicht die Richtlinienkompetenz, sondern den Artikel 5.

Zusatz: Entschuldigung, ich wollte „Beistandspflicht“ sagen.

BK’in Merkel: Der Artikel 5, die Beistandspflicht, ist ein zentrales Element der Nato, und nach meiner Auffassung gilt dieser Artikel 5 für alle Mitgliedstaaten der Nato, nicht nur für große oder für kleine oder für einige. Montenegro hat sehr, sehr viele Anstrengungen unternommen, um Mitglied der Nato zu sein, und es hat auch viel Einflussnahme in Wahlkämpfen gegeben. Insofern freue ich mich über das Mitglied Montenegro. Es ist ja auch ein Staat des westlichen Balkans, der ja auch eine europäische Aufnahmeperspektive hat. Sicherlich liegt dafür noch viel Arbeit vor uns, aber für jeden Mitgliedstaat gilt der Artikel 5 und damit die Beistandspflicht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie sagten ja eben: Ich habe es versprochen, deswegen bleibe ich bis 2021. – Aber hatten Sie angesichts dieses doch recht dichten, anstrengenden letzten Jahres jemals Zweifel daran gehabt, ob Sie noch die richtige Kanzlerin sind, oder bestärken Sie diese Schwierigkeiten der Vergangenheit eigentlich dabei, „Jetzt erst recht“ zu sagen?

BK’in Merkel: Ich habe keine Veranlassung, von dem, was ich immer gesagt habe, abzuweichen, und deshalb habe ich es heute so wiederholt.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, haben Sie die Migrationskampagne der CSU zeitweise für einen Putschversuch gehalten, also den Versuch, Sie zu stürzen? Haben Sie dabei einmal an Rücktritt gedacht?

BK’in Merkel: Ich habe diese Frage, um die wir gestritten haben, für eine sehr grundsätzliche Frage gehalten und deshalb ja auch die Maßstäbe sehr früh formuliert. Für mich war es wichtig, dass wir einfach ein verlässlicher Partner auch in Europa bleiben. Ich glaube, wir haben jetzt Wege gefunden, auf denen wir das erreichen können, und insofern will ich das nicht weiter kommentieren. Aber das war schon eine grundsätzliche Frage.

Ich glaube, dass wir im Übrigen sehr viel stärker deutlich machen sollten, dass wir zwar nicht alle Probleme der Migration gelöst haben und ich ja deshalb auch die allerallermeisten Maßnahmen des Masterplans des Bundesinnenministers unterstütze, dass wir schon in der Koalitionsvereinbarung eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben und dass wir schon vorher eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben, aber dass wir auch deutlich machen sollten, dass wir sichergestellt haben, dass wir Vorsorge dafür getroffen haben, dass sich 2015 nicht wiederholt. Das können wir den Menschen auch mit guter Überzeugung sagen. Das heißt also, ich argumentiere oder versuche zu argumentieren, dass wir die Dinge positiv sehen, obwohl sie noch längst nicht alle gelöst sind.

Zusatzfrage: Darf ich noch einmal nachfragen, ob Sie im Zuge dieser Auseinandersetzung auch einmal an einen Rücktritt gedacht haben und ob Sie sich – gegebenenfalls aus welchen Gründen – dagegen entschieden haben?

BK’in Merkel: Nein. Wenn ich in der Mitte einer wichtigen Auseinandersetzung bin, dann muss ich ja meine Kräfte darauf konzentrieren.

Frage: Da wir das Wort Rücktritt schon in den Mund genommen haben: Gehen Sie davon aus, dass Sie noch einmal einen Rücktritt angeboten bekommen werden?

Die andere Frage ist: Wird das Bundeskabinett in dieser Besetzung das Ende der Wahlperiode 2021 erleben, abgesehen von Ihnen?

BK’in Merkel: Sie können feststellen, wer welche Worte in den Mund genommen hat. Ich möchte das jetzt nicht weiter kommentieren.

Wie das Kabinett am Ende der Legislaturperiode aussehen wird, kann ich heute nicht sagen. Im Augenblick arbeite ich gerne mit allen Ministern zusammen.

Frage: Frau Merkel, hinter Ihnen liegt ja ein sehr intensives Jahr, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Mich würde interessieren, wie erschöpft Sie tatsächlich sind, wenn Sie einmal für einen Moment ganz ehrlich sein können.

Zweiter Teil der Frage: Inwiefern ist diese kollektive Erschöpfung, von der ja viele Politiker auch aus der Regierung klagen, möglicherweise auch ein Grund dafür, dass die politische Auseinandersetzung im Moment oft so hart geführt wird, und vielleicht auch dafür, dass so ein Streit wie zuletzt der in der Union eben eskaliert?

BK’in Merkel: Ich klage nicht. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich freue, wenn ich jetzt ein paar Tage Urlaub habe und etwas länger schlafen kann. Aber ich klage überhaupt nicht. Die Zeiten sind fordernd, und wir müssen versuchen, diesen Forderungen zu entsprechen. Ich freue mich, wenn ich jetzt gerade in den letzten Tagen auch einmal andere Themen der Politik in den Mittelpunkt stellen kann, von der künstlichen Intelligenz bis zum Besuch eines Pflegeheims. Die Welt ist ja politisch sehr viel breiter, als es vielleicht an manchem Tag den Eindruck macht. Das erfreut mich.

Ansonsten glaube ich, dass sich bestimmte Mechanismen – ich sage es noch einmal: auch durch die neue Medienvielfalt – verändert haben und dass die globale Ordnung, wie ich schon gesagt habe, in einer bestimmten Drucksituation ist. Das fordert uns natürlich auch. Wir sind ein Teil dieser Welt und müssen unseren Platz immer wieder neu finden. Deutschlands Verantwortung steigt, Deutschlands Aufgaben steigen. Der wirtschaftliche Fortschritt ist nicht in Stein gemeißelt und auch nicht gesetzlich verankert, sondern wenn man sieht, mit welcher Verve sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch China und andere asiatische Länder im Bereich der Digitalisierung vorangehen – viele Innovationen kommen nicht mehr aus Europa, sondern sie kommen von anderen Kontinenten; das haben wir vor 50 Jahren so nicht gekannt -, dann fordert uns das.

Aber ich finde jetzt überhaupt keinen Anlass, darüber zu klagen. Das ist unsere Aufgabe. Die sollten wir annehmen, und zwar mit Freude an der Sache. Ich meine, wir leben ja auch in spannenden Zeiten. Wer hätte gedacht, was alles möglich ist? Das finde ich immer noch faszinierend.

Frage: Ich würde gerne noch einmal zum Thema der EU-Außengrenzen zurückkommen. Italien scheint es als wirksame Maßnahme des Außengrenzschutzes zu betrachten, Boote, die gerettete Flüchtlinge an Bord haben, nicht mehr anlegen zu lassen. Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Ist es im Sinne eines stärkeren EU-Außengrenzschutzes gerechtfertigt, dass man die Seenotrettung einschränkt? Wofür werden Sie sich dabei auf EU-Ebene einsetzen, was sowohl die EU-Mission Sophia als auch die privaten Retter betrifft, unter denen ja vor allen Dingen viele Deutsche sind, die derzeit auf Malta festsitzen?

BK’in Merkel: Die Seenotrettung ist ja erst einmal eine internationale Aufgabe, aus der man sich sowieso nicht herausziehen kann. Man kann nur versuchen, Menschen davon abzuhalten, weil sie ihr eigenes Leben ja auch in Gefahr bringen, unter zum Teil unsäglichen Bedingungen überhaupt aufs Meer hinauszugehen. Ich glaube, dass es wichtig ist – das haben wir auch in den EU-Ratsschlussfolgerungen gesagt -, dass sich die privaten Seenotretter auch an die internationalen Bedingungen halten müssen, also die Territorialgewässer Libyens achten müssen. Das ist eine Forderung.

Italien diskutiert jetzt in den europäischen Gremien, also in den entsprechenden Ausschüssen, darüber, wie denn der Satz zu verstehen ist, dass die Aufgabe eben nicht nur eine Aufgabe eines Landes ist, sondern eine Aufgabe der gesamten EU. Daran sieht man, dass uns auch im Zusammenhang mit dem Außengrenzschutz im Grunde das Thema der Solidarität der Mitgliedstaaten – Deutschland hat ja jüngst auch 50 Flüchtlinge aufgenommen – immer wieder ereilen wird. Deshalb wird eine Lösung des Gesamtproblems nicht möglich sein, wenn man nur einen Teil – einen wichtigen, einen sehr wichtigen Teil – in den Fokus nimmt, sondern man wird sich eben auch mit den anderen Fragen immer wieder auseinandersetzen müssen. Das ist für mich das Beispiel dafür.

Zusatzfrage: Aber was bedeutet diese europäische Gesamtlösung für die deutschen Retter, die jetzt auf Malta festsitzen? Können die so lange warten, bis es diese europäische Gesamtlösung gibt?

BK’in Merkel: Sicherlich nicht. Ich meine, auf Malta gibt es ja jetzt auch Gerichtsverfahren oder jedenfalls Ermittlungen, wenn ich das richtig verstehe. Ich will noch einmal sagen: Es ist wichtig, dass auch die Nichtregierungsorganisationen, die sich an Rettungen beteiligen, die Territorialgewässer Libyens respektieren. Ich glaube, über diese Frage wird dort in Malta verhandelt. Das ist von uns auch in den Schlussfolgerungen gemeinsam so beschlossen worden. Das ist also nicht eine rein maltesische Meinung, sondern eine Meinung aller Mitgliedstaaten.

Frage: Frau Merkel, Sie haben im Wahlkampf noch versprochen, dass Deutschland sein Klimaziel für 2020 einhalten wird. In den Koalitionsverhandlungen wurde das dann zurückgenommen und darauf abgeschwächt, dass Sie alles tun werden, um es so weit wie möglich einzuhalten. Seitdem ist von der Zeit, die bis 2020 noch zur Verfügung steht, jetzt schon wieder ein Viertel vorbei, und passiert ist nichts – keine CO2-Steuer, keine Mittel für Sanierungen, keine Sofortabschaltung von Kohlekraftwerken, die Sie ja in den Jamaika-Sondierungsgesprächen schon einmal zugesagt hatten. Wäre es nicht an der Zeit, dass Sie auch diese zweite Hälfte des Versprechens zurücknehmen, oder können Sie irgendetwas dazu in Aussicht stellen, wie Sie das noch hinbekommen wollen?

BK’in Merkel: Sie wissen, dass wir unsere Prognosen und auch die Aussagen im Wahlkampf auf der Grundlage des Klimaschutzplans gemacht haben, den damals die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks gemacht hatte. Sie hatte dafür bestimmte Annahmen zugrunde gelegt. In der Zeit der Regierungsbildung kamen dann plötzlich neue Annahmen zum Vorschein, muss ich sagen, die die Differenz zur Erreichung des Klimaziels 2020 sehr viel größer erscheinen ließen. Wir sind jetzt ja noch bei der Klärung, wie viel das wirklich ist.

Wir haben dann jetzt in der Großen Koalition gehandelt, indem wir die Strukturwandelkommission für die Braunkohlegebiete berufen haben. Ich glaube, es ist auch der richtige Angang, zu sagen: Wir müssen erst die Perspektiven für die Menschen klären und dann darüber reden, welche Braunkohlekraftwerke wir abschalten können; wir können nicht einfach nur den Klimaaspekt sehen und die Zukunft der Menschen nicht sehen. Das ist politisch vernünftig, deshalb wird diese Kommission auch sehr schnell arbeiten und daraus dann die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen.

Wir haben uns dann des Weiteren in einem Klimaschutzgesetz verpflichtet, wirklich sicherzustellen, dass die Klimaschutzziele bis 2030 eingehalten werden. Auch das wird sehr, sehr anspruchsvoll sein. Für 2020 unternehmen wir das, was möglich ist und was wir auch vernünftig begründen können.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte auch noch einmal nach Horst Seehofer fragen: Wenn Herr Seehofer sagt, Sie seien nur Kanzlerin, weil er das so wollte, wurmt Sie das dann eigentlich überhaupt nicht?

Zweite Frage: Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wen würden Sie dann mit in den Urlaub nehmen, Herrn Trump, Herrn Putin oder Herrn Seehofer?

BK’in Merkel: Die Frage für meinen Urlaub stellt sich für mich nicht – Urlaub ist Urlaub.

Zur Frage zu Horst Seehofer kann ich nur das wiederholen, was ich schon gesagt habe: Es war eine harte Auseinandersetzung. Wir haben einen Kompromiss gefunden, der die Handlungsfähigkeit der Regierung sicherstellt, und das ist das, was für mich entscheidet.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, können Sie uns sagen, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als Sie die Pressekonferenz in Helsinki gesehen haben? Haben Sie da gedacht: Ja, da sind zwei Regierungschefs wichtiger Länder und die reden miteinander, das ist ja toll. Oder waren Sie überrascht oder vielleicht sogar besorgt über das, was da gesagt wurde?

Weil wir gerade beim Ball spielen sind: Sind Sie erleichtert, dass Sie nicht nach Russland zur WM gefahren sind, um die deutschen Spiele zu sehen?

BK’in Merkel: Nein, überhaupt nicht erleichtert. Ich wäre, wenn wir nicht die internen Diskussionen gehabt haben, schon gerne gleich zum ersten Spiel gefahren, das sage ich ganz offen, und ich wäre dann gerne noch einmal zum Endspiel wiedergekommen. Ich freue mich jetzt oder gratuliere Frankreich von Herzen – wir haben das Erlebnis vor vier Jahren gehabt. Ich wäre jedenfalls gerne gefahren; ich bin ja selbst ohne Fußball in Sotschi gewesen. Mit Fußball wäre ich noch lieber oder zumindest aus anderem Grunde nach Russland gefahren, das ist gar keine Frage.

Zu Ihrer ersten Frage in Bezug auf die Pressekonferenz: Ich werde dazu keine Kommentare abgeben. Ich habe mich gefreut, dass die beiden gesprochen haben, und nehme das, was als Ergebnis da ist, zur Kenntnis. Ich glaube, dass es richtig ist, dass es weitere solche Treffen gibt; denn die ganze Agenda konnte ja überhaupt nicht abgearbeitet werden. Insgesamt liegt mir an verlässlichen Beziehungen zwischen Amerika und Russland. Dass es da Meinungsverschiedenheiten gibt und dass es da auch große und zum Teil tiefe Meinungsverschiedenheiten gibt, ist nicht verwunderlich, denn die gibt es zwischen Russland und Deutschland zum Beispiel auch.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal auf das Thema Seenotrettung im Mittelmeer zu sprechen kommen. Wir haben eben angemahnt, dass auch zivile Seenotretter die libyschen Hoheitsgewässer respektieren müssen. Dies vorausgesetzt: Unterstützen Sie die Arbeit ziviler Seenotretter? Gerade die Deutschen beziehen sich ja unter anderem auch auf die Cap Anamur, die vor 40 Jahren vietnamesische Boatpeople rettete und damals vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sehr massiv unterstützt wurde. Gilt Ihre Wertschätzung für die Arbeit ziviler Seenotretter in vergleichbarer Weise heute?

BK’in Merkel: Ich schätze die Arbeit ziviler Seenotretter, selbstverständlich, aber wie Sie es schon gesagt haben: vorausgesetzt, dass auch die Rechtsordnung respektiert wird. Ich schätze sie aber ausdrücklich, sie haben ja unglaublich vielen Menschen in der Vergangenheit das Leben gerettet. Über die Situation, die wir jetzt haben, haben wir ja erst gesprochen, nämlich dass Italien anmahnt, dass es nicht das einzige verantwortliche Land ist. Mit dieser Situation müssen wir uns jetzt politisch auseinandersetzen.

Zusatzfrage: Sie haben im Bundestag erklärt, man müsse die libysche Küstenwache auch ihre Arbeit machen lassen. Nun gibt es auch aktuelle Berichte, laut denen zum Teil libysches Küstenwachpersonal daran beteiligt sei, Boote zu versenken, wobei Flüchtlinge ums Leben kommen. Die libysche Regierung kontrolliert bestenfalls ein Viertel der Lager. Ist es in dieser Situation nicht notwendig, dass auch zivile Organisationen außerhalb der Hoheitsgewässer weiterhin eigene Aktivitäten zur Seenotrettung mit deutscher Unterstützung leisten?

BK’in Merkel: Außerhalb oder innerhalb?

Zusatz: Außerhalb, nur außerhalb.

BK’in Merkel: Zu außerhalb habe ich mich ja geäußert. Der libysche Ministerpräsident hat es häufig gesagt, gerade heute wieder in einem Interview: Er wünscht sich noch bessere Unterstützung bei der Ausbildung, er wünscht sich bessere Ausrüstung. Wir setzen uns dafür ein – und haben dafür auch finanzielle Unterstützung gegeben -, dass möglichst viele von denen, die zurückgebracht werden, vom UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration betreut werden. Die libysche Regierung sagt dann zu Recht: Wir erwarten von euch auch Unterstützung für die Menschen, die ständig in Libyen leben, und nicht nur das Kümmern um Flüchtlinge. Auch das ist richtig, weil das natürlich etwas zu tun hat mit der Frage, ob es offene Lager oder offene Camps in Libyen geben kann – wir plädieren dafür, dass das nicht geschlossene sind. Aber Libyen hat eben sehr, sehr viele Flüchtlinge, die noch gar nicht die Ausreise gemacht haben, und deshalb endet unsere Arbeit auch nicht bei Libyen.

Ich unterstütze aber beziehungsweise ich schätze – ich kann es jetzt zum dritten Mal oder zum vierten Mal sagen – dort, wo Menschen Menschen retten – entsprechend der Gesetzlichkeit -, die Dinge, und ich weiß auch, dass die libysche Küstenwache noch weit mehr Unterstützung braucht. Wenn uns solche Fälle bekannt werden, wie Sie sie geschildert haben, dann gehen wir denen nach, denn wir übernehmen mit der Mission Sophia in gewisser Weise ja auch eine Verantwortung für die libysche Küstenwache.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, in einem Monat geht das dritte Hilfsprogramm für Griechenland zu Ende, und damit ein ganzes Kapitel der Eurorettung, woran Sie sich maßgeblich beteiligt haben. Für Griechenland brachte aber auch das dritte Programm nicht das nötige Vertrauen, denn sonst würde Griechenland nicht für die nächsten 40 Jahre an erhöhte Primärüberschüsse gebunden. Warum dieses Misstrauensvotum an die heutige Regierung Griechenlands und an die nächste Regierung Griechenlands? Ist das nicht ein Armutszeugnis für die Politik der Rettung Griechenlands?

BK’in Merkel: Ich glaube, dass man doch zwei Dinge in eine Balance bringen muss. Das ist auf der einen Seite die Frage, wie lange wir warten, bis bestimmte Hilfsgelder zurückgezahlt werden, und das ist auf der anderen Seite die Frage, warum man deshalb auch über eine gewisse Zeit weiter Erwartungen – wie zum Beispiel die nach Primärüberschüssen – formulieren muss. Wenn Griechenland keinen Primärüberschuss erwirtschaftet, dann wird es nicht möglich sein, den Schuldenstand zu reduzieren. Wir haben jetzt ja schon eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um dabei zu helfen, den Schuldenstand zu reduzieren – immer innerhalb der Regeln, die wir ja auch haben, also dass es keinen Schuldenschnitt im klassischen Sinne innerhalb des Euroraums geben kann.

Insofern ist das doch ein guter Kompromiss, wie ich finde. Auf der einen Seite ist das Programm beendet, ja, aber damit ist Griechenland sozusagen noch nicht wieder in dem Zustand, dass es nie ein Programm gegeben hat. Ich glaube – und ich habe mit dem Ministerpräsidenten Tsipras auch darüber gesprochen -, dass das im August ein wichtiger Tag ist, wenn dieses Programm beendet ist. Aber die Fortwirkung der Programme ist eben mit diesem Tag nicht beendet, und deshalb müssen wir uns auch in der Zukunft aufeinander verlassen können. Ich sehe da also eher einen Vertrauensbeweis, da wir Griechenland ja auch über Jahrzehnte weiter Zeit geben, aus einer schwierigen Situation herauszukommen.

Zusatzfrage: Sie sollen Tsipras Ihre Zustimmung für den Aufschub der Mehrwertsteuer für die griechischen Inseln signalisiert haben. War das eine Gegenleistung für die Zustimmung Griechenlands zu einem bilateralen Abkommen für die schnelle Rückführung von Flüchtlingen aus Deutschland nach Griechenland?

BK’in Merkel: Ich glaube, es ist schon oft gesagt worden, aber ausdrücklich nein. Ich habe mit ihm intensiv darüber gesprochen, dass wir diese Dinge absolut nicht verquicken, weil das für keinen von uns beiden in irgendeiner Weise gut gewesen wäre, und deshalb hat das auch nicht stattgefunden. Jetzt ist ja ein Weg gefunden worden, wie diese, ich sage einmal, Veränderung des Programms durch die Verlängerung der reduzierten Mehrwertsteuersätze kompensiert wird, und darüber wird ja auch der Haushaltausschuss am 1. August beraten. Ich glaube, dass dieser Weg, der jetzt gefunden wurde, ein guter Weg ist. Es gab jedenfalls keinerlei Vermischung der verschiedenen Dinge.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, bei der Abschiebung von Sami A. fühlt sich das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bewusst getäuscht; zumindest wurden auf jeden Fall Gepflogenheiten, die sonst üblich sind, nicht beachtet. Es gibt Juristenorganisationen, die darin ein Symptom für eine allgemeine Entwicklung sehen. Da gibt es meinetwegen eine Stadt Wetzlar, die eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht umsetzt, die Rechts- und Fachaufsicht reagiert auch auf eine Mahnung des Verfassungsgerichts nicht; es gibt das Diktum von der Anti-Abschiebe-Industrie, das auch in diese Richtung geht. Sehen Sie da eine allgemeine Entwicklung, die Ihnen Sorgen macht?

BK’in Merkel: Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden, und dass wir das, wo immer das notwendig ist, auch tun. Ich glaube, dass diese Prinzipien des Rechtsstaats auch richtig und wichtig sind. Im nordrhein-westfälischen Landtag wird heute ja noch einmal über den Einzelfall gesprochen. Das grundsätzliche Bekenntnis ist aber da: Der Rechtsstaat ist die Voraussetzung für Demokratie.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, wer sich mit dem Bereich Pflege beschäftigt, der weiß, dass die 8000 zusätzlichen Plätze, die die Koalition für den Pflegebereich festgeschrieben hat, natürlich viel zu wenig sind. Jens Spahn bemüht sich und will das noch ein bisschen aufbohren, aber das ist ja alles ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie waren jetzt ja in so einer Pflegeeinrichtung und haben die Probleme vor Ort gesehen. Haben Sie eigentlich als Regierungschefin jetzt einen neuen Erkenntnisstand? Wären Sie überhaupt in der Lage, umzuschichten und mehr Geld in System zu geben?

BK’in Merkel: Erstens haben wir ja sehr viel mehr Geld in dieses System gegeben, nämlich 0,5 Prozentpunkte, was über 20 Prozent mehr innerhalb einer Legislaturperiode waren. Jens Spahn hat jetzt schon bekanntgegeben, dass die Leistungen, die wir versprochen und auch zugesichert haben, eine weitere Beitragserhöhung in diesem Bereich notwendig machen, und hinzu kommen noch die zusätzlichen Maßnahmen. Das heißt, beim Thema Geld ist vieles geschehen.

Ich bin jetzt ja in dem Pflegeheim gewesen, weil mich ein Pfleger eingeladen hatte. Dort haben mir viele gesagt: Das ist alles richtig, was ihr macht, und das müsst ihr auch machen – Ausbildung verändern, keine Ausbildungsbeiträge mehr, sondern Ausbildungsvergütung, möglichst in einem komplizierten System mit kirchlichen Trägern, öffentlichen Trägern und privaten Trägern, aber auch so etwas wie eine einheitliche Tariflandschaft oder einheitliche Bezahlung für die Pflegekräfte schaffen. Der eigentliche Erkenntnisgewinn dort war aber, dass die Pflegekräfte mir gesagt haben: Wir möchten, dass unser Beruf in einem besseren Zusammenhang steht, dass unsere Arbeit mehr gewürdigt wird. Viele denken bei Pflegekräften nur daran, dass man sich mit alten und schwachen Menschen umgibt, aber sie haben mir immer wieder gesagt, dass sie in dem Moment, in dem mehr Zeit für die Menschen ist, unglaublich viel von den Menschen lernen, dass das wie ein Geschichtsunterricht aus eigenem Erleben ist und dass das eine schöne Arbeit ist. Ich weiß schon, dass wir die Bedingungen verbessern müssen, aber das klingt mir nach: Dass es eine Berufsgruppe ist, die darum kämpft, Anerkennung in der Gesellschaft zu bekommen, und zwar nicht nur dafür, dass sie etwas leistet, sondern auch dafür, dass das ein guter Beruf ist, ein Beruf, in dem man sich verwirklichen kann. Deshalb gehört die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber auch die Anerkennung dieses Berufsbildes als ein erfüllender Beruf mit dazu. Das war eine der Erkenntnisse, die mir dort sehr klar mit auf den Weg gegeben wurden.

Vorsitzender Dr. Mayntz: Ich schlage vor, dass ich diesen Zettel mit den vielen Namen von Kolleginnen und Kollegen, die nicht drangekommen sind, aufbewahre und beim nächsten Mal vorrangig behandle. – Für heute schönen Dank.

Es gab im Bundestag eine Debatte darüber, ob die Regierungsbefragung ausgeweitet werden soll, und da wurde argumentiert, dass Sie sich, wenn Sie sich der Bundespressekonferenz stellen, natürlich auch dem Bundestag stellen könnten. Diese Parallele fand ich zunächst nicht so toll, denn Sie sind ja laufend im Bundestag und nicht so oft hier. Jetzt haben Sie vereinbart, dass Sie dreimal im Jahr in den Bundestag gehen. Ich finde die Parallele jetzt deutlich besser. Ich gebe Ihnen hiermit jedenfalls die Einladung mit auf den Weg.

BK’in Merkel: Im Bundestag hatte ich jetzt erst einmal strengere Regeln, da durfte ich immer nur eine Minute lang auf jede Frage antworten.

Vorsitzender Dr. Mayntz: Umso schöner ist es doch bei uns, oder?

BK’in Merkel: In Bezug darauf ja. Sonst ist es immer besonders schön im Bundestag. – Danke schön!

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