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Bundeskanzlerin für Desinteressierte: BPK vom 28. August 2020

Naive Fragen zu:
– radikale Maßnahmen Corona vs Klimawandel (ab 18:11)

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Komplettes BPK-Wortprotokoll vom 28. August 2020:

BK’IN DR. MERKEL: Guten Tag, meine Damen und Herren! Ich möchte mich persönlich bei der Bundespressekonferenz für die erneute Einladung bedanken und auch dafür danken, dass Sie die Pressekonferenz so ausrichten, dass wir hier im Saal die Regeln, die in diesen Zeiten nun einmal gelten müssen, einhalten können. Ich grüße auch die Journalisten, die deshalb heute nur im Livestream dabei sein können genauso herzlich wie die, die hier im Saal sind.

Als ich im vergangenen Jahr meine Neujahrsansprache hielt, konnte ich mir wahrlich nicht vorstellen so geht es wahrscheinlich auch Ihnen , was uns dieses Jahr 2020 bringen würde, dass eine Pandemie Staaten, Gesellschaften und Volkswirtschaften in aller Welt vor nie da gewesene Herausforderungen stellen würde. Auch für uns in Deutschland sind die Monate seit Februar und März ein tiefer Einschnitt. Für jeden von uns haben sie das Leben dramatisch verändert, privat und in der Familie, am Arbeitsplatz und in unserem demokratischen Zusammenleben. Das Virus ist eine demokratische Zumutung.

Seit über einem halben Jahr bestimmt das Coronavirus dementsprechend auch meine Arbeit als Bundeskanzlerin. Aus heutiger Sicht scheint mir ganz klar, dass das auch im Herbst und dann im Winter so bleiben wird.

Ja, man muss damit rechnen, dass manches in den nächsten Monaten noch schwieriger sein wird als jetzt im Sommer. Wir alle haben im Sommer die Freiheiten und den relativen Schutz vor Aerosolen genossen. Das ist durch das Leben draußen möglich. In den nächsten Monaten wird es darauf ankommen, die Infektionszahlen niedrig zu halten, wenn wir uns wieder drinnen aufhalten, an Arbeitsplätzen, in Schulen und in Wohnungen.

Forscher weltweit arbeiten zwar so intensiv, wie sie es vielleicht noch nie getan haben, auf Medikamente und einen Impfstoff gegen das Virus hin. Aber noch haben wir beides nicht. Wir werden noch längere Zeit mit diesem Virus leben müssen. Deshalb ist meine Grundhaltung eine Haltung der Wachsamkeit und der Aufmerksamkeit, gerade jetzt, da die Infektionszahlen über die letzten Wochen wieder so deutlich gestiegen sind. Das bereitet uns Sorgen.

Deshalb habe ich gestern gemeinsam mit den Ministerpräsidenten weitere Beschlüsse gefasst. Es bleibt dabei: Es ist ernst, unverändert ernst. Nehmen Sie es auch weiterhin ernst!

Das vergangene halbe Jahr gibt mir aber auch Zuversicht. Denn wir alle zusammen, Bürger und Staat, haben es, gemessen an der Herausforderung, bis hierher wirklich gut bewältigt. Schlimme Erfahrungen, das Erlebnis zeitweise völlig überforderter Krankenhäuser, wie sie leider auch einige unserer engsten Partner durchmachen mussten, sind uns bisher erspart geblieben. Das war nur deshalb möglich, weil wir ein sehr starkes Gesundheitssystem in der ganzen Fläche unseres Landes haben, und vor allem deshalb, weil die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland Vernunft, Verantwortungsbewusstsein und Mitmenschlichkeit gezeigt hat. Ich werde für diese millionenfache Reaktion der Menschen immer dankbar sein.

Die Bundesregierung hat in diesem halben Jahr für den Schutz der Gesundheit jedes einzelnen, für unser Gesundheitssystem als Ganzes und für den Erhalt unserer wirtschaftlichen Basis und unserer Arbeitsplätze intensiv gearbeitet. Wir haben dafür zusammen mit dem Deutschen Bundestag und den Bundesländern mutige Entscheidungen getroffen, auch gerade in dieser Woche im Koalitionsausschuss und bei der gestrigen Konferenz mit den Ministerpräsidenten.

Wenn wir jetzt langsam in den Herbst gehen, dann möchte ich drei Schwerpunkte, drei Ziele nennen, die für mich in den kommenden Wochen von besonderer Wichtigkeit sind.

Erstens, alles dafür zu tun, dass unsere Kinder nicht Verlierer der Pandemie sind. Ihre Bildung, ob in Kita oder Schule, muss mit das Allerwichtigste sein. Ich meine alle Kinder, egal aus welchem familiären Umfeld. Die Schule darf niemanden zurücklassen. Die direkte Verantwortung für den Schulunterricht liegt natürlich bei den Ländern. Ihn jetzt nach den Ferien unter Beachtung von Infektionsschutzregeln zu organisieren, das ist zurzeit wirklich eine der schwierigsten Aufgaben im Land.

Ich habe mich neulich zusammen mit der SPD-Vorsitzenden Frau Esken und der Ministerin Anja Karliczek mit einigen Kultusministern getroffen, um klarzumachen, dass auch die Bundesregierung unter diesen außergewöhnlichen Umständen eine Mitverantwortung für sich sieht. Dieser werden wir über den Digitalpakt hinaus mit einem großen Beschaffungsprogramm gerade auch für die digitale Ausstattung von Lehrern und auch in einigen anderen Projekten nachkommen.

Zweitens, unser Wirtschaftsleben so weit wie möglich am Laufen zu halten oder wieder zum Laufen zu bringen, die Substanz unserer Unternehmen, die Basis unseres Wohlstands und die Arbeitsplätze zu erhalten, und auch in der Krise, gerade in der Krise, die Zukunftsfähigkeit, die Innovationskraft Deutschlands zu stärken. Das heißt zum Beispiel: klimafreundliche Technologien, Digitalisierung vorantreiben, die Grundlagen für das nächste Kapitel der Energiewende legen, die Nutzung von Wasserstoff.

Schließlich die dritte Priorität unserer Arbeit in der Pandemie, nämlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt soweit wie möglich zu bewahren. Die Pandemie belastet Menschen sehr ungleich. Sie macht ganze Gruppen der Bevölkerung besonders verwundbar. Ich denke an ältere Menschen, an Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, an Familien mit Kindern in beengten Wohnverhältnissen, an Studierende, deren Nebenjob wegfällt, an Arbeitssuchende, die es jetzt wieder mehr gibt und die es schwerer haben, an Kleinunternehmer, die um ihre berufliche Existenz bangen, und an Künstler und Künstlerinnen.

Auf sie alle müssen wir besonders achten. Wir müssen immer wieder versuchen, sie zu unterstützen und ihnen Angebote zu machen. Vor allem müssen wir dazu trage ich bei, aber ich ermuntere auch alle Mitglieder der Bundesregierung dazu immer wieder mit diesen Gruppen im Gespräch bleiben.

Es hat sich so gefügt, dass Deutschland in dieser krisenhaften Phase bis zum Ende des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Auch sie steht ganz im Zeichen der Pandemie. Leider sind viele Begegnungen und Gipfel, die wir hier in Deutschland durchführen wollten und auf die wir uns gefreut haben, schlicht nicht möglich. Aber das ändert nichts an unserem europäischen Ehrgeiz und Einsatz, mit dem wir die Präsidentschaft anpacken.

Im Mittelpunkt steht jetzt natürlich, diese Union der 27 Mitgliedstaaten gut durch die Krise zu führen und wieder stark aus der Krise heraus zu führen. Das geht nur gemeinsam und in Solidarität und niemals, wenn wir in ein Jeder-für-sich zurückfallen würden.

Dass es direkt vor der Sommerpause noch gelungen ist, einen historischen Wiederaufbaufonds und den EU-Haushalt bis 2027 zu beschließen, war ein guter Start für die Präsidentschaft. Ich bin froh, dass Deutschland und Frankreich mit der Initiative, die Präsident Macron und ich ergriffen haben, einen wichtigen Impuls für die Beschlüsse geben konnten. Jetzt muss in den Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament, die nicht ganz einfach werden, alles darangesetzt werden, dass der Wiederaufbaufonds auch wirklich zum Jahresanfang 2021 wirksam werden kann. Denn die Mitgliedstaaten das wissen wir alle warten dringend auf diese Mittel.

Für Europa gilt, was auch für Deutschland gilt: In der Krise dürfen wir erst recht nicht aus den Augen verlieren, womit wir die Zukunft gewinnen wollen. Das heißt auch, auf EU-Ebene werden wir uns für eine entschiedene und ambitionierte Klimapolitik einsetzen. Wir werden immer wieder die Themen Innovation und Digitalisierung betonen. Europa muss da, wo der zukünftige Wohlstand erarbeitet wird, entweder Anschluss finden oder besser noch: es muss von Anfang an vorne mit dabei sein.

Zwei Themen, die auf europäischer Bühne in den kommenden Wochen noch stärker nach vorne drängen und dann auch die Präsidentschaft beschäftigen werden, will ich noch kurz nennen. Das ist einmal der Brexit, wo es jetzt auf die entscheidenden Wochen zugeht, in denen wir das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU zu klären haben, und auf der anderen Seite die gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik, wo wir in Kürze Vorschläge von der Europäischen Kommission erwarten.

Dann beschäftigt uns natürlich die Außenpolitik mit ihren vielen, vielen Themen, über die wir jetzt sicherlich im Verlauf der Pressekonferenz noch ausführlich sprechen werden.

Deshalb soweit eine alles andere als vollständige Einführung in einige wichtige Themen meinerseits. Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen.

FRAGE DUNZ: Frau Bundeskanzlerin, vor fünf Jahren sagten Sie an dieser Stelle: „Wir schaffen das.“ Ist das ein Satz, der Ihnen auch in der Coronakrise über die Lippen gekommen wäre, den Sie sich aber verkniffen haben, weil Sie erlebt haben, dass er das Land auch polarisiert hat? Wer oder was hat Sie in diesen fünf Jahren am meisten geschafft?

BK’IN DR. MERKEL: Ich sitze ja noch hier. Geschafft hat mich eigentlich nichts, aber gefordert hat mich sicherlich vieles.

Vor fünf Jahren habe ich diesen Satz in einer sehr speziellen Situation gesagt, die auch eine große Herausforderung ist. Dieser Satz steht für sich. Manchmal hat er sich sogar ein bisschen zu sehr verselbstständigt, aber egal.

Wir haben seitdem sehr viel zustande gebracht. Wenn ich „wir“ sage, dann sind das viele Menschen, die geholfen haben, viele Verantwortliche auf allen Ebenen, aber auch viele Geflüchtete, die zu uns gekommen sind. Wenn man sieht, dass einige von ihnen jetzt Abitur machen und Studiengänge aufnehmen, dann zeigt sich, dass auch hier viel geleistet wurde.

Insofern ist mir jetzt nicht in den Sinn gekommen, diesen Satz zu wiederholen. Jede Krise und jede Herausforderung haben ihre eigene Sprache. Ich glaube, wir alle sind uns dessen heute bewusst. Ich habe eben nicht umsonst wieder das Thema Migrationspolitik genannt, auch als Herausforderung für unsere Präsidentschaft jetzt; denn die Wahrheit ist: Es gibt noch kein in sich geschlossenes System einer europäischen Migrationspolitik. Auch da bleibt noch vieles zu tun. Aber auch das kann man schaffen, wenn man es will.

FRAGE STUCHLIK: Frau Bundeskanzlerin, ich würde Sie ganz gerne zum deutsch-russischen Verhältnis fragen. Wir haben ja doch eine Reihe von Ereignissen, die einiges in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ich nenne nur einmal den Tiergarten-Mord, die Cyberattacke auf den Bundestag, die mögliche Einflussnahme Russlands auf die Entwicklung in Belarus und die Vergiftung des Oppositionellen Nawalny. Es gibt Stimmen, die sagen, man müsse deswegen die Politik gegenüber Russland ändern. Wollen Sie diese Politik ändern, und, wenn ja, was soll sich daran ändern?

BK’IN DR. MERKEL: Nein, ich glaube nicht, dass wir sie ändern müssen. Denn ich kann Ihnen genauso viele Fälle aus der Zeit davor nennen, wenn ich an die Annexion der Krim denke, an unsere Bemühungen nach wie vor in der Ukraine, wenigstens einmal einige Tage keine Toten zu haben, und an das Skripal-Attentat. Das sehen wir doch als durchgängige Linie. Das belastet natürlich immer wieder das deutsch-russische Verhältnis und auch das europäisch-russische Verhältnis. Nicht umsonst gibt es im Zusammenhang mit der Ukraine auch Sanktionen.

Ich kann jetzt nur hoffen ich war auch mit dem russischen Präsidenten darüber im Gespräch , dass gerade bei Weißrussland die Souveränität des Landes geachtet wird und dass die Menschen dort ihren Weg gehen können, wenngleich auch gestern das Wegfahren von Journalisten und die Einschränkungen der journalistischen Freiheit natürlich zeigen, dass das alles andere als einfach ist. Wir haben trotzdem immer gesagt: Wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben.

Es gibt eine Vielzahl von internationalen Themen, wenn ich an Syrien und an Libyen denke, wo Russland auch über das bilaterale Verhältnis hinaus ein geostrategischer Akteur ist, mit dem man im Gespräch bleiben muss.

Natürlich ist nach wie vor unser Ziel, gute Beziehungen zu haben. Russland ist ein riesiges Land mit einer langen Geschichte und einer großen Kultur. Der Spannungsbogen zwischen dem, was wir auf der einen Seite erleben, und dem, auf der anderen Seite auch immer das Gespräch zu suchen, wird uns sicherlich auch in den nächsten Monaten begleiten.

FRAGE FILIPPOV: Russland soll nach Angaben von Putin eine Reservetruppe der Polizei für Weißrussland aufbauen. Darum habe ihn Präsident Lukaschenko gebeten, sagte Putin in einem TV-Interview. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

BK’IN DR. MERKEL: Ich hoffe, dass eine solche Truppe nicht zum Einsatz kommt und dass, wie ich es eben schon sagte, die Kräfte, die jetzt mutig auf die Straße gegangen sind, die Menschen, die Missstände benannt haben, das an Freiheitsmöglichkeiten haben, was wir für uns als selbstverständlich annehmen können, nämlich Demonstrations- und Meinungsfreiheit. Für all das muss in Weißrussland gekämpft werden. Das ist das Anliegen der Menschen. Das sollen sie eigenständig, ohne Einmischung von außen aus jeder Richtung realisieren können. Das ist unser Wunsch.

FRAGE BLANK: Frau Bundeskanzlerin, bleiben wir bei der Außenpolitik. Gehen wir zum Erdgasstreit zwischen Griechenland und der Türkei. Es hieß, Sie würden heute möglicherweise mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan telefonieren. Haben Sie das schon getan, oder haben Sie das vielleicht vor? Wie bewerten Sie die Rolle Frankreichs in diesem Streit? Frankreich hat sich da ja klar auf die Seite Griechenlands gestellt.

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Aufgabe haben, die Rechte und die Dinge, die unsere griechischen Freunde vorbringen, sehr ernst zu nehmen und sie auch zu unterstützen, wo sie recht haben. Dennoch habe ich mich immer wieder dafür eingesetzt, dass es zu keinen weiteren Eskalationen kommt. Das geht zum Teil nur dadurch, dass man auch mit beiden Seiten immer wieder spricht. Die Dispute, die es dort über die Aufteilung der Wirtschaftszonen gibt, können nur gemeinsam geführt werden. Dafür setzt sich Deutschland ein.

Ich habe mit Präsident Macron sehr intensiv über das Verhältnis zur Türkei gesprochen, das sehr vielfältig ist. Die Türkei ist NATO-Partner. Der Konflikt ist im Grunde einer zwischen zwei NATO-Mitgliedstaaten. Das kann uns nicht kaltlassen, sondern schon aus diesem Grund muss man versuchen, die Dinge innerhalb des Bündnisses zu klären.

Ich habe heute nicht mit Herrn Erdoğan telefoniert und werde das heute auch nicht mehr tun. Ich bin aber sehr häufig mit ihm im Gespräch. Wie immer, werden wir Sie umgehend informieren, wenn eines stattgefunden hat.

FRAGE JUNG: Frau Merkel, Sie hatten in Ihrer Einleitung die demokratischen Zumutungen und auch die Kinder angesprochen. Dazu eine Frage: „Koste es, was es wolle“ scheint die Losung bei der Bekämpfung der Coronapandemie zu sein. Mit radikalen Maßnahmen und Einschränkungen versuchen Sie die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Der Klimawandel ist aber eine noch größere Bedrohung für die Kinder, aber auch für meine Generation, und gefährdet ebenfalls massiv die Gesundheit. Radikale, jetzt notwendige Maßnahmen scheitern aber. Können Sie uns einmal erklären, was diese beiden Bedrohungen aus politischer Sicht unterscheidet?

BK’IN DR. MERKEL: Jede Bedrohung erfordert ihre Reaktionen. Das tun wir bei der Coronapandemie natürlich nicht nach dem Motto „Koste es, was es wolle“, sondern möglichst nach dem Motto: Koste es so wenig, wie möglich, an Menschenleben, so wenig wie möglich Überforderung unseres Gesundheitssystems, so wenig wie möglich Arbeitsplätze und so wenig wie möglich Schulstunden, die ausfallen. Das ist das, was unser Leitgedanke dabei ist.

Auch die Klimaherausforderung ist eine globale, wie im Übrigen auch die Coronapandemie. Vielleicht gibt es auch mehr Zusammenhänge, als man denkt, weil es immer um einen nachhaltigen Lebensstil und um einen nachhaltigen Lebensweg geht. Ich hoffe, wir lernen aus all diesen Herausforderungen auch etwas, sowohl im Umgang mit der Artenvielfalt auf der Welt als auch mit der Emission von klimaschädlichen Gasen.

Ich glaube, dass wir gerade mit Blick auf die Klimaherausforderung in den letzten Jahren doch entscheidende Schritte gegangen sind. Europa will der erste CO2-freie Kontinent sein. Wir werden unsere Anstrengungen in den nächsten Jahren auch aus sehr faktischen Gründen sicherlich eher beschleunigen als verlangsamen, weil wir auch sehen, dass der Klimawandel zum Teil unsere Lebensgrundlagen bedroht, aber noch viel stärker afrikanische Lebensgrundlagen. Das hat dann wieder etwas mit Flucht und Migration zu tun. Das heißt, die Dinge, die uns politisch begegnen, hängen alle sehr zusammen. Insofern unterscheide ich in der Hierarchie nicht zwischen den einzelnen Herausforderungen. Beide sind lebensbedrohlich und sehr groß.

ZUSATZFRAGE JUNG: Der Punkt war ja, dass Sie den Menschen sowie der Wirtschaft zum Schutz vor Corona ungekannte Härten zumuten, aber nicht beim Klimawandel. Frau Dunz hatte gerade schon den Satz „Wir schaffen das“ genannt, den Sie vor fünf Jahren gesagt haben. Was sind eigentlich Ihre Leitsprüche für die Coronapandemie und den Klimawandel? Haben Sie die?

BK’IN DR. MERKEL: Wenn Sie von ungekannten Härten sprechen: Das sind zum Teil Härten für Menschen, für Gruppen; das ist richtig. Es gibt aber auch Zumutungen im Zusammenhang mit den Klimamaßnahmen. Wenn Sie beispielsweise mit Bergarbeitern sprechen, die im Kohlebergbau arbeiten, gibt es den Vorwurf, dass ihre Existenzgrundlagen vernichtet werden. Auch das müssen wir in Kauf nehmen, weil das einfach notwendig und dringlich ist.

Wir versuchen dort, wo es Härten gibt, natürlich auch immer abzufedern. Das sind die bisher nicht da gewesenen Hilfsprogramme, die wir jetzt in der Coronapandemie aufgelegt haben, und das sind die Unterstützungsprogramme zum Beispiel für den Kohleausstieg, die auch von einer großen Dimension sind. Wir versuchen, auf die Herausforderungen adäquat zu reagieren.

FRAGE WETTENGEL: Sie wurden in der Vergangenheit häufig als Klimakanzlerin bezeichnet und haben selbst betont, wie wichtig und unverzichtbar der Klimaschutz ist. Was haben Sie in Ihrem letzten Jahr als Kanzlerin vor, um diesem Anspruch gerecht zu werden, auch im Hinblick auf die Rolle Deutschlands in der EU und den UN und auch mit Blick auf die Klimakonferenz in Glasgow?

BK’IN DR. MERKEL: Ich unterstütze das Ziel der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, nämlich den europäischen Kontinent, das heißt die Europäische Union, zu weiten Teilen zum ersten CO2-neutralen Kontinent zu machen. Das ist eine sehr ambitionierte Aufgabe, die uns noch sehr viele Veränderungen abverlangen wird; denn die Zeit ist nicht mehr lang. Wir feiern jetzt den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Wenn wir einmal 30 Jahre weitergehen Sie alle wissen, wie kurz 30 Jahre im Hinblick auf so etwas sein können , dann haben wir das Jahr 2050. Dann müssen wir CO2-neutral sein. Das heißt, das ist eine sehr überschaubare Zeit. Das ist im Übrigen eine Zeit, die für die jungen Klimaaktivistinnen und aktivisten eine ist, in der sie dann gerade in der Mitte ihres Arbeitslebens stehen.

Deshalb müssen wir jetzt die 2030er-Ziele für die Europäische Union anpassen. Die Kommission wird dazu einen Vorschlag machen. Wenn ich das recht verstehe, Ende September. Darauf müssen die Mitgliedstaaten reagieren.

Ich hoffe, dass es uns gelingt, einen Zertifikatehandel nicht nur für die Industrieemissionen einzuführen, sondern auch für die Mobilitäts- und die Wärmeemissionen; denn das Preissignal das haben wir gelernt ist das wichtigste Signal, um Veränderungen mit sich zu bringen. Wir sehen schon jetzt, dass wir durch die höheren Zertifikatepreise zum Beispiel sehr viel weniger Strom aus Braunkohle produzieren. Insofern sehen wir hier durchaus Veränderungen durch erhöhte Preise.

Was Glasgow anbelangt, so wird es darum gehen deshalb müssen wir als Europäische Union uns natürlich darauf vorbereiten , dass man die nationalen Ziele der einzelnen Mitgliedstaaten verbessert; denn bis jetzt wird die Summe aller Anstrengungen auf der Welt noch nicht dazu führen, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken.

Jetzt geht es vor allen Dingen erst einmal darum, in Deutschland unsere ambitionierten Klimaprogramme umzusetzen und in Europa einen gemeinsamen Pfad zu finden. Noch nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich auf das Klimaneutralitätsziel 2050 verständigt. Polen hat sich dem noch nicht angeschlossen. Auch da müssen wir noch die einheitliche Linie der Europäischen Union herstellen.

FRAGE NEUHANN: Frau Bundeskanzlerin, ich habe noch eine grundsätzliche Frage zum Thema Corona. Gesundheitsminister Spahn hat den Satz geprägt, dass man sich nach dieser Krise manches wird verzeihen müssen. Welche Fehler haben Sie selbstkritisch bzw. hat die Bundesregierung in den letzten Monaten gemacht, bei denen Sie vielleicht um Verzeihung bitten müssen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich finde, dass wir bislang nach bestem Wissen und Gewissen entschieden haben. Ich glaube, dass wir unsere Maßnahmen immer wieder lageanpasst verändern müssen. Das haben wir jetzt auch als Lehre aus der Reisesaison gesehen. Wir hatten doch sehr viele Reisen in Risikogebiete, woran wir jetzt Veränderungen vornehmen werden. Ich glaube, dass wir gerade mit den Bürgerinnen und Bürgern sehr viele gemeinsame Dinge hinbekommen haben. Insofern bin ich eigentlich mit dem Gang der Ereignisse bis hierher einigermaßen zufrieden.

Es gibt große Härten für ganze Gruppen das ist gar keine Frage , die ich eben genannt habe. Da muss die Politik dann versuchen, gerade in diese Richtung besonders viele Maßnahmen zu ergreifen, um das abzufedern.

Nicht alles wird wieder so sein wie vor der Coronapandemie. Die trifft uns schon hart und existenziell. Aber wir konnten uns jetzt im Sommer auch sehr vieles leisten, wenn ich an die vielen Möglichkeiten von Urlaub denke. Mit ein bisschen Vernunft und Beschränkungen können wir gut durch diese Zeit kommen.

ZUSATZFRAGE NEUHANN: Sie sprechen von keinen großen Fehlern. Wenn Sie aber zum Beispiel an die Urlaubsrückkehrer denken, haben Sie da nicht zu spät reagiert? Man hätte ja früher wissen können, dass Urlaubsrückkehrer eine mögliche Gefahr darstellen.

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben vielleicht nicht gesehen, dass Menschen in diesem Umfang in Risikogebiete fahren. Ich habe auch nicht gedacht, dass zum Beispiel ganz Spanien jetzt wieder zu einem Risikogebiet erklärt werden musste. Aber das sind Entwicklungen, die wir auch gar nicht voraussehen können. In einer solchen Entwicklung, bei einer solchen nie da gewesenen Herausforderung kann per se immer nur auf der Grundlage dessen, was wir heute wissen und was morgen ist, entschieden werden. Das geht den Wissenschaftlern so. Das geht uns in der Politik so. Das muss man nach bestem Wissen und Gewissen abwägen. Wenn es Notwendigkeiten gibt, muss man nachsteuern. Das wird es auch weiterhin geben. Kein Mensch weiß, wie der Winter abläuft.

Wir kennen die Eigenschaften des Virus nur ansatzweise. Alles, was wir in den letzten Wochen beispielsweise über Aerosole gelernt haben, war am Anfang nicht bekannt. Da ist man von einer Tröpfcheninfektion ausgegangen. Wann immer wir Neues wissen, müssen wir auch neue Maßnahmen treffen, jetzt zum Beispiel auch Belüftungsmaßnahmen, die wir fördern werden, damit man die Belüftungsmöglichkeiten verbessert. Das wird ein ständiger Prozess sein.

FRAGE GEBAUER: Frau Bundeskanzlerin, für viele Deutsche sind Coronatests mittlerweile eine Art Normalität geworden, egal, ob bei Verdachtsfällen, in den Schulen oder bei der Rückkehr aus dem Urlaub. Wie oft haben Sie sich als Regierungschefin schon auf das Virus testen lassen? Wie sehr fürchten Sie sich selbst vor einer möglichen Infektion mit dem Virus?

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe ja schon in Quarantäne gesessen und weiß deshalb, wie das ist und dass 14 Tage auch ganz schön lang sein können, selbst wenn man zu Hause gut beschäftigt ist. In diesem Zusammenhang bin ich mehrere Male getestet worden. Insofern kenne ich den Vorgang des Testens.

Ansonsten halte ich mich an die Abstandsregeln und an die Vorschriften und werde deshalb nicht permanent getestet, sondern das beschränkte sich, wie gesagt, auf die Zeit der Quarantäne. Ich war froh, dass die Tests negativ waren.

FRAGE LANGE: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben Anfang Mai unter anderem gesagt, es sei wichtig, dass ein Coronaimpfstoff allen Menschen zugutekommt, wenn er einmal entwickelt wurde. Bislang scheint es eher so zu sein, als ob jeder Staat seine eigene Strategie fährt. Sind Sie mit den Zusagen der Staatengemeinschaft zufrieden?

BK’IN DR. MERKEL: Das kann ich so nicht bestätigen. Wir haben verschiedene Initiativen, einmal die europäische Herangehensweise, zusammen mit ausgewählten Mitgliedstaaten. Jens Spahn hat das mit einigen Mitgliedstaaten begonnen. Das hat die Kommission jetzt federführend übernommen. Sie hat dafür auch europäische Gelder zur Verfügung gestellt. Mit AstraZeneca, einem der Hersteller, hat die Europäische Union jetzt zum ersten Mal einen Vertrag abgeschlossen. An weiteren solchen Verträgen wird gearbeitet. Wir achten innerhalb der Europäischen Union sehr darauf, dass wir die potenziell zur Verfügung stehenden Dosen fair und redlich miteinander teilen.

Wir sind auch im internationalen Verbund engagiert. Es hat eine Reihe von Geberkonferenzen im Zusammenhang mit der Frage gegeben, dass dann auch Entwicklungsländer an den Medikamenten und Impfungen teilhaben können. Deutschland hat sich hieran mit erheblichen finanziellen Beiträgen beteiligt, aber auch mit Einsatz. Ich selbst habe an vielen solcher Konferenzen teilgenommen. Die Kommissionspräsidentin hat das vorangebracht. Wir sind mit der Gates-Stiftung, mit der Impfinitiative CEPI, mit Gavi und mit der WHO in Kontakt. Hier wird schon sehr konzentriert gearbeitet. Wir gehören zu denjenigen, die sich dafür einsetzen, dass genau das genannte Ziel auch erreicht werden kann.

FRAGE JORDANS: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, dass Sie die Berliner Entscheidung, die Demonstrationen am Wochenende zu verbieten, respektieren. Nun ist es aber so, dass die Bundesregierung weltweit auf die Einhaltung der Versammlungsfreiheit pocht, während hier in Berlin Demonstrationen von möglicherweise Zehntausenden verboten werden. Sehen Sie da einen Widerspruch? Sind Sie bereit, sich mit Vertretern dieser recht heterogenen Bewegung zu treffen, so wie Sie es mit Klimaaktivisten und Bauernverbänden getan haben?

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe hinzugefügt, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist und dass diejenigen, die jetzt die Demonstrationen angemeldet haben, selbstverständlich auch den Gerichtsweg gehen können. Das gehört für mich zur Demonstrationsfreiheit dazu. Ansonsten entscheide ich immer dann, wenn sich Menschen an mich wenden, ob ich mit ihnen das Gespräch suche oder nicht.

ZUSATZFRAGE JORDANS: Hat es da nach Ihrem Wissen eine Bitte gegeben?

BK’IN DR. MERKEL: Mir ist eine solche Bitte nicht bekannt.

FRAGE DR. RINKE: Frau Bundeskanzlerin, ich würde ganz gern zum Thema Corona und Wirtschaft kommen. Die Koalition hat jetzt etliche Maßnahmen verlängert, die Milliarden kosten. Wie groß ist Ihre Sorge, dass der Staat in dieser Krise auch finanziell überfordert werden kann? Denn viele dieser Maßnahmen stellen sich als teuer heraus. Es gibt Diskussionen, ob Unternehmen nicht künstlich am Leben gehalten werden und dass es einen großen Schock danach gibt, wenn staatliche Hilfen wegfallen. Befürchten Sie durch die sehr starken deutschen Hilfen kein Ungleichgewicht in Europa?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass es absolut notwendig war, die Stützungsmaßnahmen durchzuführen. Auf eine ganz unerwartete und auch nicht erwünschte Art und Weise hat sich gezeigt, dass es gut war, dass wir in den vergangenen Jahren sehr sparsam und ordentlich gewirtschaftet haben, dass wir einen ausgeglichenen Haushalt hatten und dass wir mit unserem Schuldenstand wieder die Maastricht-Kriterien eingehalten haben. Es war gut, dass wir Reserven bei den sozialen Sicherungssystem hatten, allein bei der Bundesagentur für Arbeit etwa 28 Milliarden Euro. Das hilft uns jetzt natürlich, in diese Zeit hineinzugehen und die notwendigen Hilfen auch wirklich leisten zu können.

Wir stehen natürlich bei jeder Entscheidung vor der Frage: Kann die Brücke, die wir bauen, auch in die Zukunft tragen? Das ist völlig klar. Das ist im Falle einer Pandemie besonders schwer zu entscheiden, weil wir nicht wissen, wann sie endet. Wir wissen nicht, wann es einen Impfstoff gibt. Wir wissen nicht, wann es ein Medikament gibt. Als wir die Bankenkrise hatten, wusste man: Wenn man die Banken rekapitalisiert, dann hat man die Ursache der Krise beseitigt und kann wieder zu einem vernünftigen normalen Wirtschaften zurückkehren. Hier wissen wir nicht, ob das noch drei, zehn, zwölf oder 15 Monate dauert. Insofern ist das schon eine nicht gekannte Herausforderung für unsere finanzielle Tragkraft, bei der ich aber glaube, dass wir uns alles, was wir bisher entschieden haben, leisten können.

Wir müssen immer auch im Auge haben, was das Nichthandeln bedeuten würde, wenn es dann einmal wieder vorangeht und Fachkräfte vielleicht ihren Bezug zum Unternehmen verloren haben. Ich nenne nur das Thema Kurzarbeit oder wenn Fachkompetenz wieder herbeigeführt werden muss. Es wird der Tag kommen, an dem es wieder Messen und große Veranstaltungen gibt, an dem Messebauer und alle diese Menschen gebraucht werden. Wenn man die alle jetzt umschult, um anschließend festzustellen, dass man wieder Messebauer ausbilden muss, dann ist das keine besonders ökonomische Verhaltensweise.

Insofern kann ich für den jetzigen Zeitpunkt sagen: Wir handeln verantwortlich. Wir gehen nicht zu weit in die Zukunft hinein. Aber wir dürfen auch nicht monatlich Unsicherheit schüren, sondern das muss eine belastbare Grundlage sein. Das hat uns jetzt auch bei den Entscheidungen zum Kurzarbeitergeld sehr bewegt.

Wir wissen, dass wir zu den Ländern gehören wir sind nicht das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union , die sich relativ viel an Stützungsmaßnahmen leisten können. Genau das war auch der Grund, warum ich mich zusammen mit dem französischen Präsidenten dafür eingesetzt habe, dass wir den ungewöhnlichen Weg gegangen sind, auch Zuschüsse in Form von Darlehen durch die Europäische Kommission zu geben. Von diesen Zuschüssen profitieren die Mitgliedstaaten sehr viel stärker als Deutschland. Das ist auch richtig so, weil die Pandemie unverschuldet über alle Mitgliedstaaten gekommen ist. Es gibt eine Vielzahl von Darlehensprogrammen, zum Beispiel das Programm SURE zur Zahlung von Kurzarbeitergeld. Insofern versuchen wir, die Kohäsion und die Konvergenz innerhalb der Europäischen Union aufrechtzuerhalten, auch wenn wir etwas mehr tun können. Wir stellen unsere stärkeren Fähigkeiten auch Europa mit zur Verfügung.

FRAGE KOLHOFF: Frau Bundeskanzlerin, es gibt drei Kandidaten für den CDU-Vorsitz. Zwei haben Sie in ihren Ländern mit großer Medienbegleitung besucht. Werden Sie Herrn Röttgen in ähnlicher Weise öffentlich treffen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe jetzt von Herrn Röttgen noch keine Einladung bekommen. Insofern konnte ich auch noch nicht darauf reagieren. Das ist sicherlich strukturell etwas schwieriger. Mit Norbert Röttgen arbeite ich im Deutschen Bundestag in Bezug auf die Fragen gerade auch der Außenpolitik sehr eng und sehr gut zusammen. Bei den beiden Besuchen, die ich gemacht habe, habe ich Ministerpräsidenten besucht, was Bayern und NRW anbelangt. Auch Friedrich Merz habe ich jetzt noch nicht öffentlichkeitswirksam getroffen, sondern wir haben uns besprochen, wenn es Gesprächsbedarf gibt. Das tue ich aber auch mit Norbert Röttgen.

FRAGE MÜNSTERMANN: Die SPD hat ihren Kanzlerkandidaten gekürt. Die CDU beschäftigt gerade vor allem die Suche nach einem Vorsitzenden. Was raten Sie Ihrer Partei in dieser Situation mit Blick auf die nächste Bundestagswahl?

BK’IN DR. MERKEL: Sie wissen, dass ich mich als diejenige, die für das Amt der Bundeskanzlerin und auch für das Amt der CDU-Vorsitzenden nicht mehr kandidiert, aus den Nachfolgefragen heraushalte. Deshalb habe ich dazu auch keine Hinweise zu geben.

FRAGE KORMBAKI: Frau Bundeskanzlerin, NATO, Iran, Nord Stream 2 – die Liste an Konflikten mit den Vereinigten Staaten ist lang. Was würden vier weitere Jahre unter einem Präsidenten Trump für das Verhältnis zu Washington bedeuten?

Können Sie die Aussage des früheren Botschafters Grenell bestätigen, wonach Herr Trump Sie verzaubert habe?

BK’IN DR. MERKEL: Was habe er mich?

ZUSATZ KORMBAKI: Verzaubert.

BK’IN DR. MERKEL: Ach so. – Ich berichte ja nichts aus internen Gesprächen, und insofern kommentiere ich das jetzt auch nicht. Aber Sie wissen, dass ich immer gesagt habe, und ich kann das auch gerne wiederholen, dass ich mit jedem gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zusammenarbeite. Was uns dabei leitet, sind unsere Werte und natürlich die Interessen von deutscher bzw. amerikanischer Seite. Deshalb wird das amerikanische Volk die Entscheidung am 4. November treffen. Wir in Deutschland konzentrieren uns auf unsere Wahlen, und in den Vereinigten Staaten von Amerika konzentriert man sich auf die dortigen Wahlen.

Dass es hier und da Meinungsverschiedenheiten gibt, liegt in der Natur der Sache. Aber es gibt eben auch gemeinsame Dinge. Gerade was die NATO anbelangt, ist es, so glaube ich, eine gemeinsame Überzeugung, dass die NATO ein wichtiges sicherheitspolitisches Bündnis ist, in das sich Deutschland natürlich auch einbringt.

FRAGE ROMANIEC: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorgestern mit dem polnischen Premierminister Morawiecki telefoniert. Ging es dabei auch um das derzeitige große deutsch-polnische Problem, das Problem des deutschen Botschafters, der seit drei Monaten auf die Akkreditierung aus Warschau wartet? Sehen Sie es als einen Affront gegenüber Berlin an, dass es zu dieser Hinauszögerung kommt?

BK’IN DR. MERKEL: Ich hoffe, dass sich das Thema der Akkreditierung des Botschafters lösen wird. Aber im Wesentlichen ging es um Belarus und die Fragen: Was können wir hier aus der europäischen Perspektive unterstützend tun? Brauchen wir zum Beispiel einen Repräsentanten, der sich speziell um die Belarus-Frage kümmert, entweder bei der EU oder auch bei der OSZE? Wie können wir auch gerade Menschen, die gefoltert wurden, die verletzt wurden oder die krank sind, unterstützen? Es ging auch um die Sanktionen, die wir gegen Belarus einführen wollen. – Hier herrscht zwischen der polnischen Sicht und der deutschen in einer großen Zahl von Punkten eine große Übereinstimmung.

ZUSATZFRAGE ROMANIEC: Eine kurze Nachfrage, weil Sie das ansprechen: Gestern wurden mehr als 30 Journalisten auch ausländische und deutsche Journalisten in Minsk schlecht behandelt, verhaftet und in ihrer Arbeit behindert. Wie wollen Sie darauf reagieren?

BK’IN DR. MERKEL: Wir werden uns, wo immer wir können, für die journalistische Freiheit und die guten Arbeitsmöglichkeiten einsetzen. Ich hatte eben schon im Zusammenhang mit einer anderen Frage gesagt, dass das, was gestern stattgefunden hat, natürlich das Gegenteil dessen ist, wofür wir einstehen. Wir werden Weißrussland sicherlich auch mitteilen, dass wir das nicht akzeptabel finden.

FRAGE DETJEN: Frau Bundeskanzlerin, zu Wirecard: Sind die Erkenntnisse, die wir bzw. die Sie in den letzten Wochen und Monaten über dieses Unternehmen gesammelt haben, ein Anlass für Sie, sich bei Auslandsreisen vorsichtiger bzw. zurückhaltender für deutsche Unternehmen einzusetzen?

Warum waren diese Erfahrungen nicht ein Anlass für Sie und Ihre Regierung, auch Ministerien und das Bundeskanzleramt in die Transparenzpflichten eines Lobbyregisters im Gesetzentwurf der Koalition einzubeziehen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass wir durch das Informationsfreiheitsgesetz schon sehr verantwortlich sind oder eine rechtliche Grundlage dafür haben, sehr transparent zu arbeiten, sowohl in Richtung der Öffentlichkeit als aber auch durch das Instrument der Fragen, die ja in Form Kleiner und Großer Anfragen nicht unzahlreich jeden Tag auf uns einstürmen, also dass wir durch diese Instrumente als Regierung doch eine sehr hohe Transparenz an den Tag legen. Insofern haben wir dann ja auch auf die Anfragen bezüglich Wirecard hingewiesen.

Das, was da passiert ist, muss natürlich aufgeklärt werden; das ist klar. Aber dass es passieren kann, dass man sich zu einem Zeitpunkt, an dem man von solchen Unregelmäßigkeiten keine Kenntnis hat, für ein Unternehmen einsetzt, halte ich auch für gegeben. Das war ein DAX-30-Unternehmen. Insofern haben wir, glaube ich, nach dem damaligen Kenntnisstand verantwortlich gehandelt, wie wir natürlich überhaupt immer den Unterschied zwischen dem unternehmerischen Handeln und dem unternehmerischen Risiko deutlich machen. Aber es ist nicht nur in Deutschland Usus, dass man bei Auslandsreisen natürlich auch die Anliegen von Unternehmen anspricht. Das macht man nicht nur in China. Das gibt es natürlich auch bei anderen Auslandsreisen.

FRAGE BUCHSTEINER: Ich habe mehrere Fragen zum Lieferkettengesetz: Frau Bundeskanzlerin, wie zufrieden sind Sie mit den Plänen von Entwicklungsminister Müller und Arbeitsminister Heil für ein Gesetz, das Mindeststandards in globalen Lieferketten sichern soll? Hat dieses Vorhaben Ihre ungeteilte Unterstützung?

BK’IN DR. MERKEL: Das Vorhaben als solches ist ja Teil des Koalitionsvertrags und hat meine Unterstützung. Aber natürlich müssen jetzt vor allem die zuständigen Ressorts das ist neben dem Entwicklungsministerium und dem Sozialministerium auch das Wirtschaftsministerium einen gemeinsamen Entwurf vorlegen, erst einmal in Form von Eckpunkten. Darüber gibt es zurzeit sehr intensive Diskussionen. Ich werde auch darauf Wert legen, dass auf der einen Seite das wirklich wichtige Anliegen fairer Lieferketten im Fokus steht, auf der anderen Seite aber natürlich auch darauf, dass die Dinge machbar sind, insbesondere für mittelständische Unternehmen, die natürlich nicht immer alle Informationen über alle Teile der Lieferkette haben können. Das heißt, das wird eine schwierige Abwägung und sicherlich noch ein sehr kompliziertes Gesetzgebungsvorhaben werden, das aber Teil unseres Koalitionsvertrags ist. Deshalb will ich auch, dass es umgesetzt wird.

FRAGE: Hallo, Frau Bundeskanzlerin! Ich würde gerne stellvertretend für einen Zuschauer von uns eine Frage stellen. Er hat nämlich ein Gefühl formuliert, dass sicherlich sehr weit verbreitet ist. Es gibt in der Bevölkerung die Sorge, dass man jetzt langfristig mit diesen AHA-Regeln leben muss und es nie wieder so wie zuvor werden wird. Der Zuschauer aus München fragt sich: Wann kann der Bürger damit rechnen, dass alles wieder so wird wie früher? Was ist der Maßstab? Können Sie Hoffnung machen?

BK’IN DR. MERKEL: Es wird nicht so wie früher werden, solange wir keinen Impfstoff und kein Medikament haben, weil wir sonst durch Dinge, die uns ja wirklich lieb sind dass wir die Hände schütteln, dass wir Menschen umarmen, die nicht im eigenen Hausstand wohnen, also Dinge, die Nähe bedeuten , andere in Gefahr bringen können. Wenn es einen Impfstoff oder sehr, sehr gute Medikamente geben wird, dann werden wir natürlich auch wieder zu den uns eigenen Verhaltensweisen zurückkehren können. Aber die Hoffnung kann nur darin bestehen, dass wir mit der Krankheit so umgehen können, dass sie uns nicht gefährdet und vor allen Dingen auch nicht die Risikogruppen gefährdet.

ZUSATZFRAGE: Es gibt ja jetzt schon erste Fälle, bei denen trotz einer Erkrankung zum Anfang des Jahres jetzt keine Antikörper mehr nachweisbar sind. Was, wenn das mit der Impfung gar nicht funktioniert?

BK’IN DR. MERKEL: Darüber gibt es ja eine breite wissenschaftliche Debatte, in der ich jetzt wirklich nicht die beste Gesprächspartnerin bin, wenn es darum geht, inwieweit Antikörper notwendig sind, um einen Impfstoff zu entwickeln, also wie die beiden Dinge miteinander zusammenhängen. Das weiß ich nicht. Ich höre nur aus der Szene der Impfstoffentwickler, dass es ja nach den verschiedenen Methoden doch sehr hoffnungsvolle Ansätze für Impfstoffe gibt. Insofern drücken wir einmal die Daumen!

Wir tun alles, indem wir auch sehr stark ökonomisch bzw. wirtschaftlich fördern, für diese Impfstoffentwicklung. Das tun nicht nur wir, sondern auch viele andere auf der Welt. Wenn man überlegt, wie viele Jahre es sonst gedauert hat, Impfstoffe zu entwickeln, dann stehen jetzt schon sehr viel Anstrengung und auch wirklich Kraft und Wille dahinter, das voranzubringen.

FRAGE ZIEDLER: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den EU-Aufbauplan schon angesprochen. Jetzt hat der Koalitionsausschuss am Dienstagabend schon angefangen, sage ich einmal, das Geld ein bisschen zu verteilen. Es soll eine digitale Bildungsoffensive geben. Geld soll auch in den Kohleausstieg oder die Infrastrukturmaßnahmen darum herum fließen. Können Sie uns sagen, welche weiteren Investitionsschwerpunkte Sie für Deutschland sehen, weil da ja doch beträchtliche Mittel fließen? Haben Sie vielleicht dennoch Sorge, dass es gar nicht dazu kommen könnte, weil die Ratifizierung zum Beispiel im Bundestag scheitert, nachdem Ihr Vizekanzler dieses zentrale Argument der Einmaligkeit dieses Vorhabens ja infrage gestellt hat und sich das als ein dauerhaftes Projekt vorstellen kann?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, hoffe und werde natürlich alles dafür tun, dass diese Ratifikation im Deutschen Bundestag stattfindet. Ich habe ja auch deutlich gemacht: Für mich ist das ein aus dieser speziellen Situation kommender einmaliger Kraftakt, der aber auch notwendig ist. Wir werden die Schulden aus diesem Wiederaufbaufonds übrigens bis 2058 zurückzahlen. Das heißt, das wird jetzt auch nicht irgendwie in der nächsten Legislaturperiode beendet sein; da wird es noch nicht einmal richtig angefangen haben. Insofern glaube ich auch, dass auf dieser Grundlage die Fraktion, der ich angehöre, ihre Zustimmung geben wird.

Wir werden von deutscher Seite aus nach jetzigem Stand man kann das noch nicht ganz genau sagen, weil ein Teil des Geldes ja noch einmal nach einem bestimmten Schlüssel berechnet werden wird etwa 22 Milliarden Euro bekommen. Die Regeln sind so, dass es sich um Maßnahmen handeln muss, die nach dem 20. Januar 2020 in den Nationalstaaten beschlossen wurden, und dass sie auch eine Antwort auf die Defizite geben müssen, die im Zusammenhang mit den länderspezifischen Empfehlungen der Kommission an die einzelnen Mitgliedstaaten benannt wurden. Dabei ist gerade in Bezug auf Deutschland das Thema der Zukunftsinvestitionen immer eines, von dem die Kommission sagt: Da müssen wir mehr machen. Deshalb wird ein großer Teil des Geldes sicherlich aus dem kommen, was wir uns im Konjunkturprogramm schon vorgenommen haben und was noch nicht durchfinanziert ist. Aber Sie haben es schon erwähnt wir werden auch noch einmal einen Schwerpunkt bei der digitalen Bildung setzen, und zwar bei der dafür notwendigen Infrastruktur.

Es gibt dann eine zweite Komponente. Das ist nicht direkt dieser Aufbaufonds, sondern das ist der „Just Transition Fund“. Das ist Geld, von dem wir auch etwas bekommen wenige Milliarden , und zwar zur Begleitung des Umstiegs von Kohle auf andere Technologien. Die werden in das 40-Milliarden-Unterstützungsprogramm für die Kohleregionen einfließen, damit sie ihre Anpassungen besser bewältigen können.

Bis zum 15. Oktober können die ersten Anträge eingereicht werden. Wir werden uns als Regierung Mühe geben, sehr schnell Anträge einzureichen und hierbei auch gerade auf die Themen der Digitalisierung und des Klimaschutzes besonderen Wert zu legen. Im Bereich der Wasserstofftechnologie könnte ich mir etwas vorstellen. Ich könnte mir auch etwas im Bereich der Digitalisierung vorstellen; das hatten wir schon gesagt.

Das Finanzministerium und das Kanzleramt werden jetzt auf Basis des Rahmens, den wir aufgespannt haben, einmal einen Vorschlag machen. Dann werden wir das mit den Ressorts und den Fraktionen abstimmen, und ich hoffe, dass wir dann auch relativ zeitnah bzw. gleich am Anfang unsere Vorhaben einreichen können. Denn das Ziel muss ja sein, das Geld möglichst schnell auszugeben. Ich halte nicht so viel davon, dass sich das lange hinzieht; denn wir müssen in der Zeit, in der wir noch voll mit dem Wirtschaftseinbruch zu tun haben, investieren und eben auch in die Zukunft investieren.

FRAGE MAIER: Frau Bundeskanzlerin, beim Parteitag im Dezember wird die CDU über eine verbindliche Frauenquote von 50 Prozent bis 2025 abstimmen. Wie werden Sie votieren? Warum ist das Thema in Ihrer Zeit als Vorsitzende nicht längst umgesetzt worden?

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben uns ja jahrelang mit dem Quorum und dessen Umsetzung beschäftigt. Jetzt geht man einen Schritt weiter. Das finde ich auch richtig, und deshalb werde ich aus vollem Herzen zustimmen.

FRAGE FRIED: Frau Bundeskanzlerin, auch Ihr Arbeiten hat sich ja in der Coronakrise insofern verändert, als Sie ich formuliere es einmal zugespitzt sich eigentlich hauptsächlich in Ihrem Amt aufhalten. Sie können keine Auslandsreisen machen. Sie können ja auch wenige Firmenbesuche oder Ähnliches absolvieren. Haben sich Ihre Art des Arbeitens und Ihr Zeitmanagement eigentlich verändert? Kann man vielleicht sogar einmal grundsätzlicher über Dinge nachdenken, oder wie würden Sie das beschreiben?

BK’IN DR. MERKEL: Na ja, es hat sich natürlich die Art des Arbeitens verändert; denn sonst muss ja auch sehr viel Zeit einfach als Reisezeit aufgebracht werden. Das ist jetzt nicht der Fall. Das ist ja nicht immer die produktivste Zeit. Auf der anderen Seite vermisse ich schon ein bisschen, dass man jetzt doch sehr wenig herauskommt; das ist auch richtig.

Was natürlich eine vollkommen neue Entdeckung ist, ist das Thema der Videokonferenzen. Ich muss sagen, dass das sehr viel besser geht, als ich es mir habe vorstellen können. Videokonferenzen mit sehr großen Gruppen sind natürlich doch eher statisch, aber Videokonferenzen mit Gruppen von zehn bis 15 Menschen sind sehr intensiv und sind, wenn man sich ab und an einmal sieht oder wenn man sich gut kennt, zum Teil gar nicht einmal schlechter, als wenn man eine längere Reise macht oder alle anderen anreisen lässt.

Wenn man ganz neue Dinge besprechen will meinetwegen das Thema des Wiederaufbaufonds und der mittelfristigen finanziellen Vorausschau für die Zeit zwischen 2021 und 2027 und weiß, dass man das nur durch Gruppengespräche, aber dann auch wieder durch individuelle Gespräche, also in stark wechselnden Formaten machen kann, dann sind Videokonferenzen unzulänglich; das muss man ganz klar sagen. Videokonferenzen haben auch den Nachteil, dass man nicht weiß, wer alles zuhört. Das kann man in geschlossenen Räumen doch etwas besser kalkulieren und einschränken. Insofern gibt es einige Unterschiede.

Aber durch Videokonferenzen kann man seinen Tag auch mit einer sehr hohen Dichte an Aktivitäten füllen, weil man sich ja genau wie auf jeden anderen Gesprächstermin vorbereiten muss. Aber dass jetzt sehr viel mehr Zeit bleibt, um tagelang grundsätzlich nachzudenken, dicke Bücher zu lesen und irgendwie über die Welt von Übermorgen nachzudenken, kann ich noch nicht bestätigen.

ZUSATZFRAGE FRIED: Was sich ja im Vergleich zu den früheren Legislaturperioden zu diesem Zeitpunkt auch verändert hat, ist, dass Sie sich keine Gedanken mehr über den bevorstehenden CDU-Parteitag und Ihre Kanzlerkandidatur machen müssen. Wachen Sie da manchmal morgens auf und denken sich „Ein Glück, dass ich das nicht mehr machen muss“?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, das ist eher nach dem Motto: Alles hat seine Zeit. Natürlich ist das eine besondere Zeit, wenn ich jetzt nicht darüber nachdenke, wie der nächste Wahlkampf aussieht; das ist klar. Aber das gibt die Möglichkeit, mich in dieser jetzt ja doch sehr herausfordernde Zeit auch sehr auf das Regieren konzentrieren zu können. Ich meine, wir sitzen jetzt hier, jeder zweite Platz ist nicht besetzt, und wir wissen, dass es ganze Branchen gibt, die überhaupt nicht richtig arbeiten können, wenn ich einmal an Künstler denke oder wenn ich an ich habe sie schon genannt die Messen denke. Wir wissen, wie Eltern jeden Morgen aufstehen und Angst haben, ob ihr Kind jetzt eine laufende Nase hat, und das wird sich jetzt durch den ganzen Winter ziehen. Das ist natürlich total nervenaufreibend. Wir müssen schauen, wie wir denn trotzdem das ganze Land am Laufen halten.

Jedenfalls empfinde ich es nicht als Nachteil, dass ich mich voll auf diese Aufgabe konzentrieren kann, weil das schon etwas ist, das wir noch gar nicht kennen. Es ist ja auch gut und vernünftig, dass wir immer wieder ein großes Stück von Routine in unseren Alltag bringen, auch unter diesen veränderten Umständen, aber es ist schon eine sehr, sehr, sehr besondere Zeit.

Was ich als gut empfinde, um das auch noch zu sagen, ist, dass ich natürlich durch meine langjährige politische Erfahrung sehr viele Akteure schon kenne. Wenn ich jetzt zum Beispiel Bundeskanzlerin in meinem ersten Jahr wäre, sozusagen die allermeisten Staats- und Regierungschefs auf der Welt noch gar nicht gesehen hätte, man jetzt nicht reisen könnte und alles immer nur per Videokonferenz machen müsste, dann wäre das schon sehr viel einschneidender. Insofern ist es zurzeit auch schon ein bisschen hilfreich, dass ich schon viel gereist bin und auch viele kenne.

FRAGE HERHOLZ: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben einmal gesagt, Sie träumten davon, durch die Rocky Mountains zu reisen und mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland zu fahren. Haben Sie schon gebucht, oder was sind Ihre Pläne für den Ruhestand?

BK’IN DR. MERKEL: Nein, ich habe noch nicht gebucht, und es ist gerade auch nicht die Zeit, um solche Reisen zu buchen. Ich bin voll mit der Ist-Zeit beschäftigt.

ZUSATZ HERHOLZ: Aber es war gefragt, was Ihre Pläne für den Ruhestand sind.

BK’IN DR. MERKEL: Die haben sich jetzt, sagen wir einmal, nicht so dramatisch geändert. Ich könnte wieder dasselbe antworten. Ansonsten habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich werde jetzt erst einmal noch weiterarbeiten, und dann wird sich etwas finden. Ich bin optimistisch, dass mir etwas einfallen wird.

FRAGE MARKMEYER: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte und muss noch einmal auf das Coronathema zurückkommen. Sie haben jetzt auch mehrfach von den besonders verletzlichen Gruppen und den Menschen gesprochen, die besondere Härten zu ertragen hatten. Besondere Härten hatten die Heimbewohner zu ertragen, die wochenlang isoliert waren. Ich würde von Ihnen gerne wissen, ob das wieder vorkommen kann oder ob Sie sicher sind, verhindern zu können, dass es wieder vorkommt.

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass wir inzwischen genug gelernt haben, um sicherzustellen, dass das so, wie es in den ersten Wochen war, nicht wieder vorkommen wird. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich mir insgesamt Sorgen um die Frage mache, wie sich die verschiedenen Gruppen in unserer Gesellschaft sozusagen weiterentwickeln. Es gibt ja jetzt sehr viele junge infizierte Menschen. Das Durchschnittsalter der Infizierten ist ungefähr um 20 Jahre gesunken. Es gibt zurzeit glücklicherweise sehr wenige Erkrankungen unter den Älteren. Ich frage mich natürlich: Woran liegt das? – Es kann natürlich auch daran liegen, dass sich ganze Gruppen unserer Gesellschaft sehr aus der Öffentlichkeit zurückziehen, eben nach wie vor mit wenigen Kontaktpersonen klarkommen müssen und längst nicht so viel herausgehen.

Deshalb ist die Frage der gegenseitigen Rücksichtnahme natürlich schon von großer Bedeutung. Denn eine Gesellschaft, in der jeder Ältere den Jüngeren aus dem Weg geht und in der sozusagen völlig gespaltene Lebenswelten entstehen, das wäre auch nicht gut. Deshalb freue ich mich darüber, dass sich in den Umfragen auch heute wieder zeigt, dass sehr, sehr viele Menschen Verständnis für die Regeln, die wir haben, haben, weil es in einer Gesellschaft ja nicht nur um das eigene Leben geht, sondern auch um das Leben anderer.

Ich glaube also, dass es nicht wieder so sein wird. Wir werden es etwas besser machen können. Aber es sind ja nach wie vor noch Beschränkungen da.

FRAGE: Frau Bundeskanzlerin, nach einer Stunde noch einmal zurück zur allerersten Frage, Stichwort „Wir schaffen das“, 2015: Würden Sie aus heutiger Sicht Ihre wesentlichen Entscheidungen von damals noch einmal genauso treffen? Stehen Sie auch noch zu Ihrer Feststellung von damals, als Sie sagten, die Grenzen Deutschlands ließen sich nicht schließen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich würde die wesentlichen Entscheidungen wieder so fällen, das ist richtig.

Ich denke, dass man Grenzen kontrollieren kann. Das haben wir ja getan. Aber wenn so viele Menschen kommen, dann kann man die Frage nicht auf dem Rücken dieser Menschen austragen. Das ist meine Überzeugung. Wenn Menschen vor der deutsch-österreichischen oder der österreichisch-ungarischen Grenze stehen, dann muss man sie als Menschen behandeln und muss anschließend das habe ich dann zum Beispiel mit der Türkei getan über ein Abkommen verhandeln, wie wir Menschen vor Ort helfen. Das ist völlig klar. Aber ich würde die wesentlichen Entscheidungen wieder so fällen, ja.

FRAGE DENKER: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, der japanische Ministerpräsident ist zurückgetreten. Was bedeutet dieser Rücktritt politisch für die internationalen Beziehungen und für Sie persönlich?

BK’IN DR. MERKEL: Ich hatte jetzt natürlich noch keine Gelegenheit, mit Shinzō Abe zu sprechen. Aber ich bedauere diesen Rücktritt natürlich und wünsche ihm vor allem auch gesundheitlich alles Gute. Wir haben immer sehr, sehr gut zusammengearbeitet und hatten auch jetzt in der Coronazeit noch eine Videokonferenz miteinander.

Ich denke, dass sich in dieser Zeit unser deutsch-japanisches Verhältnis recht gut entwickelt hat. Shinzō Abe ist der am längsten amtierende Ministerpräsident Japans gewesen. Er hat japanische Geschichte mitgeprägt. Er hat sich immer für Multilateralismus eingesetzt und auch über die großen Entfernungen zwischen Japan und Deutschland hinweg immer auch deutlich gemacht, worin unser gemeinsames Wertefundament besteht.

Ich wünsche ihm von Herzen alles Gute und bedanke mich für eine gute Zusammenarbeit.

FRAGE LEITHÄUSER: Frau Bundeskanzlerin, sehen Sie den Syrien-Konflikt als die größte außenpolitische Tragödie in Ihrer Amtszeit an?

Ziehen Sie in der Rückschau Lehren aus dem Verhalten Deutschlands, Europas und des Westens insgesamt in diesem Konflikt? Hätte man etwas anders machen müssen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich bin mir leider nicht sicher, ob es die größte Tragödie ist, weil das, was sich an humanitärer Katastrophe im Jemen abspielt in derselben Region , leider auch sehr, sehr, sehr dramatisch ist und weil auch all das, was mich viel mehr als vor zehn Jahren natürlich auch in der Sahel-Zone und in Libyen beschäftigt, von großer Bedeutung ist.

Aber in Syrien ist schon eine dramatische Situation. Wenn man sich überlegt, dass die Hälfte der Bevölkerung Syriens im Grunde entweder im Lande auf der Flucht ist oder das Land verlassen hat, wenn man sieht, dass man mit Recht gegen einen Diktator vorgehen wollte, der letztlich immer noch im Amt ist, dann spürt man, welches Spannungsfeld zwischen den Werten, für die man kämpft und für die auch ich kämpfe, auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Möglichkeiten besteht, wenn man nicht militärisch agiert. Russland hat sich nicht gescheut, sozusagen dem Hilferuf von Assad nachzukommen. Das hat natürlich zu einer Verfestigung der Situation dort geführt. Bis heute ist kein inklusiver politischer Prozess, über den ich auch mit dem russischen Präsidenten sehr oft gesprochen habe, zustande gekommen.

Ich werde mich, solange ich im Amt bin, natürlich sehr dafür einsetzen, dass die vielen Menschen, die heute nicht mehr in Syrien sind oder die in Syrien vertrieben sind, auch ihre syrische Stimme bekommen. Aber es ist eine große Tragödie, bei der sich die Hoffnungen dessen, was man einmal den arabischen Frühling genannt hat, natürlich in ihr Gegenteil verkehrt haben.

FRAGE PANCEVSKI: Herr Nawalny ist laut Charité vergiftet worden und wird daher in Berlin behandelt und geschützt. Befürchten Sie nicht, dass solche Aktionen des Kremls immer dreister und brutaler werden, auch in Deutschland und der EU, wenn die Reaktionen darauf, wie es bisher der Fall war, milde und rhetorisch bleiben?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass wir die Pflicht haben, alles dafür zu tun, damit das aufgeklärt werden kann. Es war richtig und gut, dass Deutschland gesagt hat: „Wir sind bereit, Herrn Nawalny aufzunehmen.“ Ich danke auch den Ärzten an der Charité.

Jetzt werden wir mit unseren Möglichkeiten, die in der Tat begrenzt sind, versuchen, Aufklärung herbeizuführen. Wenn wir mehr Klarheit über die Hintergründe haben, werden wir versuchen, eine europäische Reaktion zu haben, ähnlich wie man das bei Herrn Skripal hatte, und nicht nur einzelstaatliche Reaktionen. Es ist ja kein deutsches Problem, auch wenn Deutschland Herrn Nawalny nun aufgenommen hat.

FRAGE: Es gibt in Deutschland die Meinung, aus dem Projekt Nord Stream 2 deshalb auszusteigen. Wie kommentieren Sie das? Halten Sie es für möglich, dass Deutschland aus diesem Projekt aussteigt, oder sollte es Ihrer Meinung nach fertiggestellt werden? Ich beziehe mich ausdrücklich auf den Fall Nawalny.

BK’IN DR. MERKEL: Ich denke, dass wir das davon entkoppelt sehen sollten. Unsere Meinung ist, dass Nord Stream 2 fertiggestellt werden sollte. Dieses Projekt wird ja von Wirtschaftsakteuren aus Russland und aus Europa betrieben. Das heißt, dass es zwar politische Implikationen hat deshalb haben wir uns dafür eingesetzt, dass es weiterhin einen Transitvertrag über die Gaslieferung aus Russland über den Transitweg der Ukraine gibt, und werden das auch weiterhin tun , dass ich es aber nicht für sachgerecht halte, dieses wirtschaftlich getriebene Projekt jetzt mit der Frage Nawalny zu verbinden. Wir sind auch gegen die extraterritorialen Sanktionen, die die Vereinigten Staaten von Amerika aufgelegt haben.

Das heißt also, dass wir wollen, dass das fertiggebaut wird, und dass die Frage Nawalny wie auch andere Fragen Tiergarten und Ähnliches separat diskutiert werden müssen.

FRAGE CHAZAN: Frau Bundeskanzlerin, die großen Fraktionen im Europäischen Parlament haben in dieser Woche in einem Brief an Sie appelliert, klare Regeln zur Koppelung von EU-Geldern an Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. In dem Brief heißt es, dass der nächste EU-Haushaltsrahmen ohne eine Lösung dieser Frage nicht beschlossen werden könne.

Besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass das Parlament seine Zustimmung zum MFR verzögern könnte, um den Rechtsstaatsmechanismus zu stärken?

Ist die deutsche EU-Präsidentschaft dazu bereit, sich für einen stärkeren Mechanismus als denjenigen, der vom Europäischen Rat im Juli beschlossen wurde, einzusetzen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe die Verhandlung ja vier Tage lang mitgemacht. Dabei ging es nicht nur um Geld, sondern es ging auch um genau diesen Rechtsstaatsmechanismus. Die Verhandlung über diesen Teil gehörte zu den kompliziertesten in der gesamten Verhandlungsphase dieser vier Tage. Das heißt, dass ich ungefähr weiß, wo die Spielräume liegen.

Auf der einen Seite muss eine Mehrheit im Europäischen Parlament gefunden werden, die den Vorschlägen zustimmt. Das weiß ich. Deshalb nehme ich die Kommentare und die Bemerkungen des Europäischen Parlaments sehr ernst. Wir sind darüber mit dem Parlamentspräsidenten und den Fraktionen ja auch im Gespräch. Auf der anderen Seite weiß ich auch, wie es um die Kompromissmöglichkeiten innerhalb des Europäischen Rates steht. Denn wenn das Parlament eine Mehrheit zustande bringt, aber der Europäische Rat nicht einstimmig zustimmt, dann ist es auch nicht möglich.

Das heißt, dass wir es auf der einen Seite mit der Notwendigkeit der Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten zu tun haben und dort das Maximale herausholen müssen und dass wir es auf der anderen Seite mit, wie ich finde, berechtigten Grundhaltungen des Parlaments und dem, was man dort zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen kann, zu tun haben. Das, woran man weiterarbeiten müssen wird, müssen wir jetzt miteinander ausloten. Ich lege jedenfalls viel Wert darauf, dass wir auch zu einem Wiederaufbaufonds und zu einem Haushalt kommen. Trotzdem ist dafür noch eine Quadratur des Kreises zu schaffen.

FRAGE SAVELBERG: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin! Fühlen Sie sich angesichts der Proteste in Weißrussland, in Belarus, auch ein wenig an Ihre eigene Geschichte erinnert? Vor 30 Jahren wurden auch in Berlin Menschen willkürlich verhaftet, mitgenommen und geschlagen. Danach wurden Sie in der demokratischen Opposition in der DDR aktiv. Fühlen Sie sich auch ein wenig daran erinnert?

Was ist Ihre Botschaft an die Menschen in Belarus, wo in diesen Tagen hunderttausend auf die Straße gehen, aber der Diktator im Gegensatz zum Beispiel zu Honecker nicht abgetreten ist und im Gegensatz zu damals doch die Unterstützung Moskaus hat?

BK’IN DR. MERKEL: Einerseits fühle ich mich daran erinnert, und andererseits weiß ich, dass die jetzigen Umstände doch ganz anders sind. Damals konnten wir die friedliche Revolution in der DDR nur deshalb erfolgreich gestalten, weil die Sowjetunion, weil Gorbatschow es letztlich hat geschehen lassen, weil nicht eingegriffen wurde, als die Mauer geöffnet wurde, weil auch der ganze vorherige Weg möglich war, ohne dass sich die Sowjetunion eingemischt hat.

Wir haben andere Ereignisse erlebt. Denken Sie an Prag 1968; denken Sie an das Kriegsrecht bei Solidarność; denken Sie an 1953 in der DDR, an Ungarn. Das alles waren historische Konstellationen, in denen die Menschen mit dem gleichen Mut im Grunde gescheitert sind und danach eine sehr schwere Zeit hatten.

Auch heute sind die Umstände in Weißrussland nicht so günstig, wie sie es 1989 und 1990 im gesamten damaligen Ostblock waren. Trotzdem wünsche ich, dass die Menschen einen Fortschritt erreichen können. Ich kann mich also gut hineinversetzen, weiß aber auch, wie sehr Erfolg und Nichterfolg solcher Bewegungen davon abhängen, wie die geopolitische Gesamtlage ist.

ZUSATZFRAGE SAVELBERG: Ist der Präsident von Belarus, Herr Lukaschenko, für Sie bzw. die deutsche Regierung noch ein Gesprächspartner, wenn er seine Bürger so dermaßen hart schlagen und foltern lässt? Sie haben das vielleicht auch gesehen oder gehört. Bleibt er Gesprächspartner?

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben ja gesagt, dass wir als Europäische Union das Ergebnis der Wahlen nicht anerkennen. Wir glauben, dass dieses Wahlergebnis nicht ehrlich ausgezählt ist.

Auf der anderen Seite habe ich auch selbst versucht, mit Herrn Lukaschenko zu telefonieren er hat das von seiner Seite abgelehnt , weil mir natürlich bewusst ist, dass man auch mit den Akteuren überall sprechen muss. Ich kann ja nicht nur mit dem russischen Präsidenten über Belarus sprechen. Das ist, finde ich, auch nicht angezeigt. Aber er hat sich diesem Gespräch bis jetzt noch nicht geöffnet.

Ich würde es vor allen Dingen begrüßen, wenn die OSZE, die ja auch in dem gesamten Prozess vor 30 Jahren und davor eine wichtige Rolle gespielt hat, einen Zugang zu den verschiedenen Gruppen in Belarus bekäme. Denn gerade sie ist die Organisation, die sich historisch bewährt hat, und könnte vielleicht auch jetzt eine sehr, sehr wichtige Rolle spielen.

VORS. WOLF: Ich habe noch etwa 15 Fragen auf der Liste, und wir haben jetzt noch 15 Minuten. Deswegen bitte ich Sie, von Nachfragen abzusehen und

BK’IN DR. MERKEL: Wir können es ja so machen, dass nur die Fragen gestellt werden und ich nicht mehr antworte. Dann bekommen wir es noch hin.

(Heiterkeit)

VORS. WOLF: Aus dem Lachen ist nicht zu erkennen, ob es Zustimmung oder Ablehnung ist.

FRAGE DR. DELFS: Ich hoffe, dass Sie noch auf das antworten, was ich frage. Ich möchte auf das Thema der Finanzen zurückkommen. Sie haben eine eher pessimistische Prognose abgegeben, was die Coronakrise und den Herbst und Winter angeht. Gleichzeitig sagten Sie, dass die finanzielle Tragfähigkeit Deutschlands schon herausgefordert sei.

Wo ist für Sie die Schmerzgrenze? Sie sind ja einmal als Kanzlerin, die einen ausgeglichenen Haushalt haben will, angetreten. Jetzt sind wir davon weit, weit entfernt, und man hat ein wenig das Gefühl, dass man gerade auf einer abschüssigen Straße ist. Der Bundesfinanzminister, der möglicherweise bald Bundeskanzler sein wird, flirtet ja schon mit der Idee von Eurobonds. Es geht jetzt ja alles in eine ganz andere Richtung.

BK’IN DR. MERKEL: Unbenommen von dem, was Olaf Scholz sagt, finde ich gar nicht, dass alles in eine andere Richtung geht. Wenn man sich anschaut, was passiert ist, dann hat der Deutsche Bundestag in der Tat eine Ausnahme von der Schuldenregel, aber auch klare Rückzahlungspläne und eine Rückkehr zur Schuldenbremse beschlossen. Wenn außergewöhnliche Umstände es nicht ermöglichen, auch außergewöhnlich zu handeln, macht man politisch etwas falsch. Ich bin der festen Überzeugung, dass es eine gute Entscheidung ist, sich jetzt im hohen Maße zu verschulden, weil uns alles andere noch viel länger sozusagen in der Kralle der Pandemie halten würde. Wir agieren jetzt absolut richtig.

Es ist klar, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn wir in die Phase der wirtschaftlichen Erholung gehen, sicherlich noch einmal politische Debatten über die Frage geben wird: Was ist jetzt notwendig und was nicht? Ich bin aber ganz optimistisch, dass uns das gelingt. Denn das ist uns ja auch in der internationalen Finanzkrise gelungen, wenngleich die Herausforderung jetzt viel, viel größer ist. Damals waren 1,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit, und auf dem Höhepunkt der Pandemie waren es über 6 Millionen Menschen. Das zeigt schon, dass die Dimension eine größere ist.

Dann sind wir doch auch wieder in eine Phase gekommen, in der wir sehr solide gewirtschaftet haben. Ich bin im Rückblick vor allen Dingen froh, dass wir uns nicht das süße Gift „Ach, nun macht doch durchaus auch einmal in guten Zeiten Schulden. Der ausgeglichene Haushalt ist doch kein Wert an sich“ haben einreden lassen. Jetzt zeigt sich, dass es schon sehr richtig war und dass wir damit sehr viel kraftvoller für die Bekämpfung der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen eintreten konnten.

FRAGE SCHMEITZNER: Frau Bundeskanzlerin, so langsam fängt das letzte Jahr Ihrer langen Amtszeit an. Es wird mit vielen Krisen kein leichtes, kein Spaziergang sein. Macht sich manchmal vielleicht bei Ihnen schon Wehmut breit, dass Sie sagen: Oh, das mache ich jetzt das letzte Mal? Arbeiten Sie alles ab, und dann ist unspektakulär im nächsten Herbst von dem einen auf den anderen Tag Schluss?

Was würden Sie sich in der Rückschau wünschen, wie Ihre Kanzlerschaft bewertet werden soll?

BK’IN DR. MERKEL: Daran beteilige ich mich nicht. Das überlasse ich Ihnen.

Ich sagte ja schon: Neben den normalen Aufgaben als Bundeskanzlerin haben wir jetzt eine ganz spezielle Zeit. Mir ist sehr wichtig, dass ich das, was immer möglich ist, im Bereich der Digitalisierung voranbringe. Es hat sich in der Coronapandemie noch einmal dramatisch zeigt, dass wir, was die Digitalisierung anbelangt, gerade in den föderalen Ebenen auf der Welt wirklich nicht an der Spitze der Bewegung stehen. Ich muss sagen: Hier mehr Bereitschaft zu erzeugen, ist für mich eine ganz große Motivation, genauso wie die technologischen Dinge Wasserstofftechnologie, unsere großen strategischen Projekte wie Batteriezellherstellung, Energiewende und viele anderes mehr voranzubringen. Mir geht die Arbeit nicht aus.

Natürlich weiß ich, dass es jetzt noch ein Jahr ist. Das bringt aber auch wieder mit sich, dass jeder Tag zählt und man auch keinen verschwenden möchte, sondern ich weiß: Wenn du beim Thema digitale Bildung noch etwas machen willst, muss das wirklich gut getaktet sein. Das macht mir Freude. Die Bewertungen überlasse ich dann wirklich der Außenwelt.

FRAGE GAVRILIS: Daten aus Polizeicomputern werden abgerufen; Menschen erhalten Drohmails; viele People of Color beklagen strukturellen Rassismus in den Sicherheitsbehörden, und der Innenminister weigert sich, eine Studie zum Racial Profiling durchführen zu lassen. Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Problem des Rassismus in Sicherheitsbehörden? Was sagen Sie den Betroffenen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich denke, dass man gegen die Sicherheitsbehörden keinen Generalverdacht hegen haben darf, aber dass man diese hier genannten Entwicklungen sehr, sehr aufmerksam verfolgen und sehr genau hinschauen muss. Ich bin sehr erfreut, dass das Thema im Bundesamt für Verfassungsschutz eine große Priorität hat. Ich finde es richtig damit haben wir ja auch politisch reagiert , dass es einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsradikalismus und Rassismus gibt. Dieser Kabinettsausschuss wird nächste Woche Mittwoch tagen. Er wird diesbezüglich ist mit den verschiedenen betroffenen Gruppen sehr viel vorbereitet worden ein Hearing mit gesellschaftlichen Gruppen durchführen. Ich bin sehr gespannt auf das, was wir dort hören, denn hier muss jeder Hinweis extrem ernst genommen werden.

Die Erfahrungen mit dem NSU sagen uns, dass wir gerade im föderalen Staat nicht auf die vernetzten Muster sehen. Das muss mit aller Kraft angegangen werden, und deshalb ist der nächste Mittwoch für mich ein ganz wichtiger Punkt, um dann zu entscheiden, was wir daraus an Aktionen schlussfolgern, die wir innerhalb der Bundesregierung oder zusammen mit den Ländern durchführen können.

Wichtig ist natürlich, dass unsere Polizei die entsprechenden Möglichkeiten bekommt, den Dingen auf die Spur zu kommen und ihnen auf den Grund zu gehen. Dabei spielt jetzt schon die Verabschiedung des Bundesverfassungsschutzgesetzes eine sehr große Rolle. Das ist weit gediehen. Ich hoffe, dass wir das dann auch bald im Kabinett beschließen können.

FRAGE: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin. Meine Frage bezieht sich auf die Beziehungen zwischen der EU und China. Wie will Deutschland im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft die Zusammenarbeit zwischen China und Europa verstärken, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen? Ich denke zum Beispiel an das Thema Multilateralismus.

BK’IN DR. MERKEL: Wir hatten uns für unsere Ratspräsidentschaft sehr viel vorgenommen und wollten in Leipzig den EU-China-Gipfel abhalten. Das kann jetzt leider wegen der Coronapandemie nicht geschehen. Die Themen bleiben aber auf der Tagesordnung. Ich sehe vor allen Dingen die Möglichkeit, dass wir im Bereich Klimaschutz enger zusammenarbeiten. Ich hoffe und darüber werden wir demnächst sprechen , dass wir beim Investitionsschutzabkommen weiter kommen, über das wir ja schon seit vielen Jahren miteinander verhandeln. Wir wollten uns auch über die Drittstaatspolitik verständigen, zum Beispiel beim Engagement Europas und Chinas in Afrika.

Wir müssen aber auch über Themen sprechen, bei denen wir unterschiedliche Meinungen haben. Dazu gehört auch manches, was jetzt in Hongkong passiert. Deutschland unterstützt den Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“. Wir wollen, dass die vertragliche Grundlage mit Hongkong auch wirklich eingehalten wird. Hierüber gibt es durchaus Meinungsverschiedenheiten. Nichtsdestotrotz wollen wir das Gespräch fortsetzen und vor allen Dingen auch einen Akzent für Multilateralismus mit fairen Rahmenbedingungen und einer reziproken Herangehensweise setzen.

FRAGE VOLLRATH: Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne auf den berühmten Satz, den Sie hier 2015 gesagt haben, zurückkommen. Sie erwähnten in der Rückschau ein paar positive Beispiele. Es gibt aber auch Negatives. Immer noch beziehen drei Viertel aller hier lebenden Syrer Hartz IV; es gibt über 200 000 Ausreisepflichtige, aber nur 20 000 Abschiebungen; es gibt höhere Kriminalitätsanteile. Können Sie Ihren Optimismus präzisieren, was wir wann geschaffen haben müssen oder was wir wann schaffen?

BK’IN DR. MERKEL: Natürlich gibt es auch Probleme. Es wäre bei einer solchen Herausforderung ja auch ungewöhnlich, wenn es keine gäbe. In allen Bereichen, die wir anpacken, gibt es Probleme und Dinge, die noch nicht gelöst sind. Nach wie vor ist das Thema der Rückführung von Menschen, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus bei uns haben, ein Thema, das uns beschäftigt. Das wird auf der Migrationsagenda der Europäischen Kommission auch eine große Rolle spielen.

Wir haben mit einigen Ländern durchaus solche Abkommen abschließen können, mit anderen noch nicht. Oft sind ja auch die Bedingungen in den Herkunftsländern sehr, sehr schlecht. Wenn es um kriminelle Fragen geht, müssen wir natürlich mit der gleichen Härte des Gesetzes reagieren, als wenn das Menschen sind, die schon sehr viele Jahre bei uns leben.

Natürlich machen auch nicht alle Abitur und beherrschen die Sprache total gut. Ich denke, wir haben in Bezug auf die Integrationskurse sehr, sehr viel getan. Durch die höhere Arbeitslosigkeit in Deutschland insgesamt ist es natürlich noch einmal schwieriger, Menschen in Arbeit zu bringen, die noch nicht so lange bei uns sind und die hier als Flüchtlinge oder Migranten angekommen sind.

Ich bin trotzdem sehr froh, dass wir doch einiges zu Wege gebracht haben, zum Beispiel das Zuwanderungsgesetz. Wir haben einen ganz anderen Angang, was die Frage der Zuwanderung angeht. Trotzdem wird uns das Thema auch in den nächsten Jahren weiter begleiten, denn das Thema Flucht und Vertreibung ist ja nicht beendet. Das wird ein langes Thema des 21. Jahrhunderts sein. Es wird letztlich nur dadurch bewältigt werden können, dass es auch in den Herkunftsländern bessere Leben für die Menschen gibt, die zu uns kommen.

FRAGE KÜFNER: Frau Bundeskanzlerin, Taiwan betrachtet die chinesischen Manöver vor der eigenen Küste als Provokation. Werten Sie das Verhalten Chinas als akzeptabel?

Sind Sie eigentlich sicher, dass Europa sich nicht am Ende doch zwischen den USA und China entscheiden muss?

BK’IN DR. MERKEL: Europa müsste sich dann zwischen den USA und China entscheiden, wenn es wirtschaftlich schwach ist, wenn es bestimmte Technologien nicht selbst hat. Deshalb ist ja die europäische Agenda absolut richtig, auch unabhängige Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln – sei es Cloud Computing, seien es andere Dinge. Wenn wir permanent in die Frage getrieben werden, ob wir uns zwischen China und den USA entscheiden müssen, wäre das für das Selbstverständnis Europas nicht gut. Wir haben mit den USA natürlich eine gemeinsame Wertebasis. Was die EU und China angeht, so fußen sie auf total unterschiedlichen Systemen. Wir versuchen natürlich, uns gerade im Blick auf Taiwan für die Geltung des internationalen Rechts einzusetzen. Ich habe immer wieder bedauert, dass China sich nicht der Rechtsprechung des Internationalen Seegerichtshofs anschließt. Das würde aus meiner Sicht vieles erleichtern.

FRAGE: Das Umweltbundesamt empfiehlt ein Tempolimit auf Autobahnen als einen wirksamen und kurzfristig realisierbaren Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Sollte Deutschland Ihrer Meinung nach ein solches Tempolimit einführen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich persönlich bin der Meinung, dass die heute gängigen angepassten Geschwindigkeiten, die mit der Tageszeit sehr variieren können, ausreichen, um einen vernünftigen Verkehrsfluss hinzubekommen. Ich schließe mich also im Augenblick der Empfehlung nicht an.

FRAGE REINEKE: Frau Merkel, noch eine Frage zur Flüchtlingspolitik. Die Situation in den griechischen Lagern ist nach wie vor schwierig, teilweise katastrophal. Es gibt Kommunen und zwei Bundesländer – Thüringen und Berlin , die signalisiert haben, mehr Flüchtlinge und mehr unbegleitete Kinder aufzunehmen. Die Bundesregierung möchte das nicht. Halten Sie das für klug und mit dem Selbstbild einer christlichen Partei vereinbar?

BK’IN DR. MERKEL: Ich halte das für richtig, weil wir politisch zwei Dinge erreichen müssen. Das eine ist, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird. Das andere ist aber auch, dass wir in Richtung einer europäischen Lösung arbeiten. Es ist sehr anerkennenswert, dass es Bundesländer oder Kommunen gibt, die sagen: Wir würden gerne mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wenn sich aber in Europa herumspricht, dass alle Flüchtlinge, die jetzt zur Debatte stehen, von Deutschland aufgenommen werden, werden wir nie eine europäische Lösung bekommen. Ich finde, das ist für uns alle eine Herausforderung in Europa.

Deshalb ist der Bundesinnenminister natürlich die Institution, die genau den Brückenschlag zwischen den lokalen Bereitschaften und den europäischen Gegebenheiten finden muss, und deshalb handelt er richtig. Das muss immer miteinander in Einklang gebracht werden.

Außerdem ist es so, dass die Bereitschaft der Bundesländer manchmal auch darin mündet, dass sie anschließend die Bundesregierung nach finanzieller Unterstützung fragen. Ich glaube, auch da muss man mit offenen Karten spielen. Man kann nicht unbegleitete minderjährige Kinder aufnehmen und dann anschließend sagen: Jetzt wollen wir aber gerne, dass der Aufenthalt der unbegleiteten minderjährigen Kinder auch mit Bundesanteilen finanziert wird. – Wenn es zum Beispiel um den Bezug von Hartz IV oder Ähnliches geht, sind das auch die Beitragszahler. Das heißt, wir müssen das immer gesamtgesellschaftlich abwägen.

Ich gebe Ihnen aber recht, dass die Zustände gerade in den griechischen Lagern sehr unzumutbar sind. Deshalb hat Deutschland hier ja auch schon einiges getan und wird auch weiteres tun.

FRAGE GATHMANN: Frau Merkel, zum Abschluss noch eine persönliche Frage zu Corona, wenn Sie gestatten. Mich interessiert, was Sie, also der Mensch Angela Merkel, in dieser Zeit eigentlich am meisten nervt und was Sie in Ihrem Leben am meisten vermissen.

BK’IN DR. MERKEL: Spontane Begegnungen, dass man immer schauen muss: Wie verhalte ich mich jetzt? Diese Spontanität in Begegnungen mit anderen Menschen vermisse ich am meisten.

VORS. WOLF: Mit dieser knappen letzten Frage und knappen letzten Antwort würde ich Anbetracht der Zeit schließen. Vielen Dank für Ihr Kommen. Ich bitte Sie um Verständnis, dass wir nicht alle Fragen, zumal aus dem Digitalen, beantworten konnten.

Frau Bundeskanzlerin, dennoch vielen Dank für Ihre Zeit. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Nachmittag und einen schönen Start in das Wochenende.

BK’IN DR. MERKEL: Danke schön und gleichfalls gute Wünsche auch an diejenigen, die sich digital gemeldet haben.

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