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ROSAS BRILLE #2 – Das Wrack unserer Menschlichkeit

Seit 2014 beschäftige ich mich mit diesem Thema, den Menschen und ihren Schicksalen. Besonders die Kinder, die in Griechenland, Libyen oder in einen der zahlreichen anderen Camps rumvegetieren, veranlassen mich immer wieder aufs Neue, im Wechsel weinen und schreien zu wollen. Ich habe in meiner Schulzeit einen geflüchteten Jungen betreut und bei einer Initiative für die Schulvorbereitung von 6- bis 14-Jährigen mitgeholfen. Die Geschichten, die mir diese Kinder erzählt haben, sind so traurig und schockierend, dass ich sie teilweise immer noch nicht wahrhaben will.

Einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen ist zu entnehmen, dass zwischen Februar und Juni des Jahres 2018 von 74 Patient*innen der jungen Altersgruppe (6 bis 18 Jahre) sich 18 selbst verletzten, versucht hatten, sich umzubringen, oder daran gedacht haben, Suizid zu begehen. Aus den Berichterstattungen und den Zuständen lässt sich herleiten, dass die Tendenz in den letzten Jahren zugenommen hat.

Die Zustände in den Flüchtlingscamps sind in meinen Augen klare Zeichen für unsere menschliche Grausamkeit. Menschen – besonders Kinder – leben in schrecklichen Zuständen, Wenn wir das Beispiel „Neu Moria“ bzw. Kara Tepe nehmen: Einmal pro Woche dürfen sie für eine Stunde in eine Spielgruppe, den Rest der Zeit leben sie eingesperrt zwischen Abwasser und Müll.

Über das Camp „Vathy“ schreibt Ärzte ohne Grenzen: „In dem Camp, in dem sich 4.500 Menschen wie Tiere auf engstem Raum aneinanderdrängen müssen, leben mehr als 1.000 Kinder im Müll – zwischen Ratten und Skorpionen.“

In diesem Moment, da ich dies schreibe, werden nachweislich Menschenrechte verletzt, die Flüchtlingskonventionen gebrochen und, um es nochmal extra zu betonen, auch die Kinderrechte nicht eingehalten – und das alles innerhalb der europäischen Grenzen! In dem Europa, welches den Friedensnobelpreis mit stolzgeschwellter Brust und breitem Grinsen entgegengenommen hat.

Mit lächerlichen Argumentationen werden schmerzverzerrte Hilferufe stumm gestellt und eiskalt ignoriert. Mit Versprechungen, wie beispielsweise einem neuen Flüchtlingscamp, das ab September 2021 GEBAUT werden soll, lassen wir Menschen mit zwei kalten Mahlzeiten pro Tag am langen Arm verhungern.

Von den versprochenen 1550 Menschen, die wir nach dem Brand in Moria im September 2020 aufnehmen wollten, wurden bisher (Stand Januar 2021) 291 gerettet. Jedes einzelne Leben ist wichtig!- Dennoch muss man die Zahlen in Relation zu den theoretischen Möglichkeiten sehen. Die Möglichkeiten in Form von Geld, hätte Griechenland wie auch Deutschland. Es mangelt nur am Willen, Menschen zu retten.

In solchen Situationen werden Versprechungen gemacht, die uns vor unseren Endgeräten aufatmen lassen. Weil wir ja helfen! Wir können uns wieder zufrieden in unser warmes und weiches Sofa zurücklehnen. Nur ist es kein Einzelfall, dass diese „netten“ Versprechungen nicht eingehalten werden, sobald sich der mediale Rummel wieder anderen und vielleicht auch einfacher zu verdauenden Thematiken zuwendet. Ein Beispiel dafür ist der Flüchtlingsjunge im roten Shirt, der für einen Aufschrei sorgte. Dieser hielt aber nicht lange an und verdunstete so schnell wie Wasser in der Sahara.

Die Verantwortung wird international wie auch national hin und her geschoben. Die Absurdität zeigt sich in Aussagen unseres amtierenden Bundesinnenministers. Dieser hatte auf die Bundesländer verwiesen, als es um den öffentlichen Verteilungsschlüssel ging. Im Zuge der Initiative „Sichere Häfen“ haben sich mittlerweile 226 Städte, Gemeinden und Landkreise bereit erklärt, weitere Menschen aus der Seenot und Geflüchtete aufzunehmen. Folgend haben drei Bundesländer ihre aktive Aufnahmebereitschaft erklärt. Dies prallte aber auf Ablehnung des Bundesinnenministerium, mit der Begründung, die Asylsuchenden würden somit ungleich behandelt werden. Die Unterschiede liegen in Regelungen des Schutzstatus im Rahmen eines Landesprogrammes und dem Asylstatus im Rahmen des Bundes Aufnahmeprogrammes. Das Ende vom Lied ist eine Klage des Berliner Senats gegen das Bundesinnenministeriums Mitte November 2020. Übrigens hatte der gleiche Innenminister an seinem 69. Geburtstag „humorig“ darauf hingewiesen, dass am selben Tag 69 angebliche Straftäter nach Afghanistan abgeschoben wurden. Von diesen 69 haben nachweislich 50 eine reine Weste! Ein weiteres Beispiel für die kranken Abschiebeentscheidungen (auch in andere Länder), welche durch fragwürdige Argumentationen und „Fakten“ teilweise in Nacht-und-Nebel Aktionen getroffen und vollzogen werden.

Wissen wir, wie viele Menschen schon im Mittelmeer ertrunken sind? Es tut mir leid, dies zu erwähnen, aber in dem Mittelmeer aus dem wir unsere Fische (z.B. Garnelen oder Tunfisch) beziehen und auch baden gehen.

Behördliche Auflagen, Absprachen oder Partner sind in humanitären Katastrophen nebensächlich. Es sollte in erster Linie um die Menschenleben gehen. Uns ist das Wohlergehen unser Geschwister, Eltern oder Großeltern auch nicht egal. Warum verwenden wir nicht ein wenig der Energie, die wir für ihre Rettung aufbringen würden, für Menschen die mittlerweile seit einer so langen Zeit unter den schlimmsten Bedingungen leben? Wir wissen, wie die Zustände an den europäischen Außengrenzen sind. Wir wissen auch, wie die Bedingungen in Europa selber sind. Es ist aber so einfach, diese Situationen zu verharmlosen oder einfach zu ignorieren, wenn man selbst so privilegiert ist, dass es einem gar nicht mehr auffällt!

Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, bei Minusgraden in einem Zelt zu schlafen, in dem die Decken tropfnass sind, weil dieser Fetzen über einem nicht schützt vor Regen und Sturm, die direkt vom Meer drauf peitschen. Wir wissen nicht, wie es ist, die gesamte Familie verloren zu haben, teilweise vor den eigenen Augen; wie es ist, in die Hände von Menschenhändlern zu gelangen und sein gesamtes Hab und Gut verloren zu haben.

Diese Situation, in der wir gerade stecken, hätte nicht schlimmer in einem Thriller beschrieben werden können. Wir können das Buch aber nicht zuklappen und damit die Geschichte beenden. Wir könne probieren, das Ende zu verändern und mitzuschreiben. Das „Flüchtlingsthema“ ist riesig und mir ist bewusst, dass ich das nicht in Gänze durchschaue. Was ich sehe, sind Menschen, und besonders Kinder, die leiden. Wir als Land, mit Bündnispartnern oder auch ohne, haben die Macht und die Möglichkeiten, Leben zu retten und ihnen eine friedliche Zukunft zu ermöglichen.

Kleiner musikalischer Reminder: Die Orsons in ihrem Lied „Oioioiropa“ :
Paar Sterne, die um gar nichts rumstehen, bilden einen Kreis
So wie auf dem Pausenhof, sie spielen faules Ei
Die meisten von den Sternen stehen auch immer schon dabei
Wenn jemand von außen kommt, den lassen sie nicht rein
Sa-Sagen dir, jetzt kommen paar, die hatten`s nicht so leicht
Ja, alle, die im Kreis rumstehen, kennen Bilder von ihrem Leid
Sie haben diesen Kreis fast übers Mittelmeer erreicht
Doch killt sie dieser Kreis, weil sie killen hier den Vibe

Anmerkung Redaktion: Rosa ist 20 Jahre alt, Auszubildende zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und arbeitet zusätzlich als Pflegerin im Seniorenheim. An dieser Stelle schreibt sie regelmäßig über ihre Erfahrungen im Beruf und in der Gesellschaft. Feedback: rosa@jungundnaiv.de

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