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Kanzlerin Angela Merkel | Bundespressekonferenz | 21. Juli 2021

Thema: aktuelle Themen der Innen- und Außenpolitik

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Naive Fragen zu:
13:42 Tilo zu Merkels mangelnder Klimapolitik
– Frau Merkel, schon in den 90er-Jahren wurden Sie als Umweltministerin unmissverständlich vor einer Klimakatastrophe gewarnt. Darum eine persönliche Frage: Was hat Sie auch als Kanzlerin daran gehindert, früher, konsequenter und effektiver gegen den Klimawandel vorzugehen?
– Sie haben das Pariser Klimaschutzabkommen angesprochen. Beunruhigt es Sie, dass Ihre eigene Partei in ihrem Wahlprogramm Klimaschutzmaßnahmen aufzählt, die nicht mit dem Pariser Klimaschutzabkommen kompatibel sind? Sie ist neben der AfD die einzige Partei, bei der das so ist.
– Unter anderem. Man bekennt sich zur Klimaneutralität, aber es wird nicht aufgezählt, mit welchen Maßnahmen Deutschland dies unter einer von Herrn Laschet geführten Bundesregierung erreichen kann. Dieses Wahlprogramm ist nicht kompatibel mit Paris. Das sagen alle Experten. Beunruhigt Sie das?

1:11:11 Zerstörung des Reitschusters

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Komplettes BPK-Wortprotokoll vom 21. Juli 2021:

BK’IN DR. MERKEL: Meine Damen und Herren, ich freue mich Dank an die Bundespressekonferenz , dass ich Ihnen heute wieder für Ihre Fragen zur Verfügung stehen kann, und möchte zwei Vorbemerkungen machen.

Erstens. In den letzten Tagen haben wir in Teilen unseres Landes schreckliche Verwüstungen durch ein Hochwasser erlebt. Wir trauern zum jetzigen Zeitpunkt um 170 Menschen. Es gibt immer noch Vermisste. Der Sachschaden muss zwar noch festgestellt werden, aber er ist immens. Die Bahn hat mitgeteilt, dass allein 600 km Schienen zerstört sind. Wir werden zum Beheben all dieser Schäden einen langen Atem brauchen.

Deshalb ist die Bundesregierung in Kontakt mit den Ländern, insbesondere mit den betroffenen Ländern, um Aufbauhilfe zu planen und auch gemeinsam zu finanzieren. Gestern hat die Bundesregierung bereits einen Betrag von 200 Millionen Euro bundesseitig für Soforthilfe zur Verfügung gestellt. Die Minister Scholz und Seehofer haben Ihnen das gestern vorgestellt. Wir haben auch deutlich gemacht: Wenn das nicht ausreicht, wird dieser Betrag natürlich aufgestockt. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder darüber sprechen, wie wir gegebenenfalls gemeinsam einen Aufbaufonds und dann auch langfristig die Wiederaufbauhilfe organisieren.

Zweitens müssen wir heute auch über die Pandemie sprechen. Die Infektionszahlen steigen seit einigen Tagen wieder, und zwar mit einer deutlichen und, wie ich finde, auch besorgniserregenden Dynamik. Das Ganze wird von der Deltavariante des Coronavirus angetrieben. Der R-Faktor liegt beständig über 1, d. h. wir haben ein exponentielles Wachstum zu verzeichnen.

Daher führt kein Weg daran vorbei, dass die Vorsichtsregeln Abstand, Maske, Hygiene, Lüften weiter beachtet werden müssen. Sie sind von wirklich großer Bedeutung. Auch regelmäßiges Testen muss und wird wieder verstärkt eine große Rolle spielen, insbesondere in Innenräumen und mit dem Schulbeginn dann auch in Schulen und Kitas. Denn es gibt für die Bevölkerungsgruppe der unter 12-Jährigen, also für die Kinder, noch kein Impfangebot, und auch in der Gruppe der 12- bis 15-Jährigen sind nur Wenige geimpft.

Beides, die Vorsichtsregeln und das Testen, hilft, die Pandemieentwicklung besser zu kontrollieren. Wir wissen aber alle, dass der Schlüssel, das einzige Mittel, um die Pandemie zu überwinden, das Impfen ist. Wir stellen fest: Impfen wirkt. Durch das Impfen werden nicht nur immer mehr Menschen vor einer Infektion, mindestens aber vor einem schweren oder gar tödlichen Verlauf gut geschützt. Vielmehr verändert eine stetig steigende Impfquote auch die Möglichkeit, höhere Inzidenzen als in den ersten drei Wellen zu bewältigen, ohne dass in der sich nun abzeichnenden vierten Welle der Pandemie das Gesundheitssystem überlastet wird.

Die Inzidenz spielt natürlich weiter eine Rolle, aber durch das Impfen verändert sich der Inzidenzwert, ab dem unser Gesundheitssystem wieder der Gefahr einer Überlastung ausgesetzt ist. Je höher die Zahl der vollständig Geimpften, umso mehr Menschen sind vor einem schweren Verlauf geschützt.

Das RKI, das Robert-Koch-Institut, entwickelt zurzeit Szenarien, wann unter Annahme welcher Impfquoten die Belastungsgrenze erreicht wird. Daran werden wir uns in den weiteren Beratungen orientieren. Die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, ist und bleibt Richtschnur unseres Handelns, da sehr viel davon abhängt. Denn was dem Ziel dient, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, dient auch der Wirtschaft, der Kultur, der Bildung und damit unserer Gesellschaft insgesamt.

Wir wollen alle unsere Normalität zurück, aber diese Normalität erhalten wir nicht allein, sondern nur als Gemeinschaft zurück. Dazu brauchen wir noch deutlich mehr Impfschutz. Jede einzelne Impfung zählt, jede Impfung einer einzelnen Person ist ein kleiner Schritt hin zur Normalität für alle.

Eine Impfung ist auch kein Privileg nur für jene, die über den leichteren Zugang zu Informationen oder den schnelleren Zugang zum Hausarzt verfügen. Nein, alle Bürgerinnen und Bürger zählen für uns gleich.

Deswegen möchte ich wie schon bei meinem Besuch im Robert-Koch-Institut auch diese Gelegenheit hier nutzen und für den Impfschutz werben. Eine Impfung mag ja manchen überflüssig erscheinen, weil sie denken, dass sie körperlich unverwundbar sind. Anderen mag eine Impfung bedrohlich erscheinen, weil sie damit keine Erfahrung haben oder zu wenig Informationen bekommen. Deswegen sage ich allen, die noch unsicher sind: Eine Impfung schützt nicht nur Sie, sondern auch immer jemanden, der Ihnen wichtig ist, um den Sie sich sorgen, dem Sie verbunden sind, den Sie lieben. Eine Impfung schützt nicht nur gut vor schwerer Krankheit und vor Schmerz, sondern auch vor den unseren Alltag beschränkenden Maßnahmen. Das heißt, je mehr geimpft sind, umso freier werden wir wieder sein, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gemeinschaft.

Ich kann als Bundeskanzlerin aus tiefer Überzeugung für eine Impfung werben das tue ich auch , und ich kann auch versuchen, die Fragen dazu zu beantworten. Aber ich weiß auch: Manchmal hilft es mehr, wenn es der Sohn, die Tochter, eine Kollegin oder ein Freund oder jemand aus dem Sportverein oder in der Gemeinde ist, der Bedenken ausräumt. Deshalb meine Bitte an alle, die schon vom Impfen überzeugt sind: Versuchen Sie mitzumachen und andere zu überzeugen. Sprechen Sie miteinander, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Fußballverein, überall, wo Menschen sich kennen und vertrauen, und werben Sie für den Impfschutz. Denn wir brauchen einander, und wir werden die Pandemie nur gemeinsam überwinden.

Das waren meine einführenden Bemerkungen. Jetzt freue ich mich auf Ihre Fragen.

FRAGE KLÖCKNER: Halten Sie es für nötig, die für Ende August vorgesehene Ministerpräsidentenkonferenz vorzuziehen, um eine neue Strategie für die steigenden Fallzahlen zu beraten?

BK’IN DR. MERKEL: Wir sind ja in ständigem Kontakt. Es wird gegebenenfalls ohnehin noch eine Ministerpräsidentenkonferenz geben, wenn die Schadenserhebung in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz abgeschlossen ist und wir mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten darüber sprechen, wie wir bei der Aufarbeitung der Hochwasserschäden weiter vorgehen. Das könnte dann auch ein geeigneter Zeitpunkt sein, um über Corona und die sich ergebende Situation zu sprechen. Wenn es den Wunsch vonseiten der Mehrheit der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gibt, werde ich mich dem ohnehin nicht verschließen.

Es gibt also eine Bereitschaft. Wir haben im Augenblick noch keine abgeschlossenen Studien des Robert-Koch-Instituts zur Verfügung. Aber ich bin offen. Wenn es die Lage erfordert, kann dies jederzeit stattfinden. Konkrete Planungen gibt es noch nicht, aber es gibt jetzt erste Bitten, es früher zu machen, und ich werde mich dem nicht verschließen; denn die Entwicklung ist in der Tat dynamisch.

Wir müssen davon ausgehen, dass wir in weniger als zwei Wochen jeweils eine Verdoppelung zu verzeichnen haben. Heute beträgt die Inzidenz 12,2. Sie können es sich ausrechnen. Ich will darauf hinweisen, dass auch jetzt schon darauf hingewirkt werden kann teilweise haben die Länder Verordnungen , bei steigenden Inzidenzen wieder zusätzliche Maßnahmen einzuführen. Ich sage es noch einmal: Man kann immer so weit gehen, dass man schaut, wann die Überlastung des Gesundheitswesens droht. Es gibt aber auch Ereignisse wie Long-Covid, über die wir noch viel zu wenig wissen. Das heißt, man kann auch versuchen, durch Maßnahmen, durch Abstand, durch Testen, so, wie ich es eben gesagt habe, den R-Wert zu drücken, den Anstieg zu verlangsamen. Dafür bestehen eigentlich in allen Ländern die Voraussetzungen. Aber wenn der Wunsch besteht, noch einmal gemeinsam zu sprechen, können wir das gerne tun.

FRAGE DUNZ: Frau Bundeskanzlerin, ist die fehlende nötige Radikalität in der Klimaschutzpolitik das größte Versäumnis in Ihrer Kanzlerschaft gewesen, und was werden Sie nach dieser letzten Sommer-PK eigentlich vermissen?

BK’IN DR. MERKEL: Was man vermisst, merkt man meistens erst, wenn man es nicht hat. Insofern ist es eine Frage für später, ob ich es vermisse, ob ich es nicht vermisse, ob sich anderes ergibt.

Nun zu der anderen Frage. Ich glaube, dass wir sagen können, dass Deutschland vieles gegen den Klimawandel unternommen hat. Mein politisches Leben ist eigentlich ab dem Jahr 1994, als ich Umweltministerin wurde, gekennzeichnet von der Arbeit für Maßnahmen gegen den Klimawandel. Ich habe es mir noch einmal angeschaut: Als ich im Jahr 2005 Bundeskanzlerin wurde, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung etwa 10 %. Heute sind es deutlich über 40 %. Wir haben von 1990 bis 2010 die CO2-Emissionen um 20 % reduziert; wir haben sie von 2010 bis 2020, also statt in 20 Jahren in 10 Jahren, erneut um 20 % reduziert, und wir haben uns jetzt vorgenommen, sie im nächsten Jahrzehnt noch einmal um 25 % zu reduzieren. Das heißt, es ist einiges passiert. Wir sollten nicht so tun, als wenn nichts passiert sei.

Aber damit haben Sie völlig recht gemessen an dem Ziel, deutlich unter einem Anstieg von 2 Grad Celsius zu bleiben oder möglichst nah an 1,5 Grad Celsius heranzukommen, ist nicht ausreichend viel passiert. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das gilt für sehr viele Länder auf der Welt. Deshalb muss das Tempo angezogen werden, und deshalb haben wir auch ein Klimaschutzgesetz erarbeitet, in dem wir für Deutschland die Klimaneutralität bereits für 2045 anstreben. Die Europäische Union hat jetzt ihre Vorschläge vorgelegt, und das Ganze wird, vom Wirtschaften über das Leben bis hin zur Energieversorgung mit dem vielleicht tiefgreifendsten Wandel, den wir kennen, einhergehen. Das ist wirklich ein sehr großer Wandel. Kombiniert mit der Digitalisierung, die auch noch einmal eine wirklich disruptive Veränderung ist, befindet sich die Gesellschaft wirklich in einem, wie man heute sagt, tiefgreifenden Transformationsprozess, bei dem natürlich auch darauf geachtet werden muss, dass wir auf diesem Weg möglichst viele Menschen mitnehmen.

FRAGE JUNG: Frau Merkel, schon in den 90er-Jahren wurden Sie als Umweltministerin unmissverständlich vor einer Klimakatastrophe gewarnt. Darum eine persönliche Frage: Was hat Sie auch als Kanzlerin daran gehindert, früher, konsequenter und effektiver gegen den Klimawandel vorzugehen?

BK’IN DR. MERKEL: Als Bundeskanzlerin hat mich diese Erkenntnis erst einmal sehr angetrieben. Ich habe sehr stark daran mitgewirkt, das Kyoto-Protokoll auszuhandeln. Dass jedes Land auf der Welt seine Reduktionsziele völkerrechtsverbindlich verabredet und auch international hinterlegt, war für uns damals die ideale Vorgehensweise. Ich musste aber erkennen, dass allenfalls die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ganz wenige andere, die signifikant zu den Emissionen beitragen, bereit waren, dieses Kyoto-Protokoll überhaupt in Betracht zu ziehen. Damals habe ich viele Enttäuschungen erlebt. Länder haben gesagt, sie würden niemals etwas rechtsverbindlich hinterlegen und sich als Land rechtsverbindlich international verpflichten.

Den Tiefpunkt haben wir dann bei der Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen erlebt. Danach hat man sich für einen anderen Weg, für das Pariser Abkommen, entschieden und hat gesagt, die Mitgliedstaaten des Pariser Abkommens würden freiwillig Ziele vorlegen. Das sind diese nationalen Ziele, die jetzt in Glasgow verbessert werden müssen. Das Ganze ist natürlich noch weniger verbindlich. Ich habe mich in der Europäischen Union immer dafür eingesetzt, dass wir auch verbindliche Ziele haben. Diese haben wir auch. Wir haben auch verbindliche Budgets.

Das heißt, unbeschadet der Tatsache, dass es, wie ich eben schon gesagt habe, gemessen an der objektiven Aufgabe, immer noch langsam vorangeht, habe ich in meinem politischen Leben sehr viel Kraft eingesetzt, um Mehrheiten zu finden, sodass wir wenigstens diesen Weg gehen konnten. Das hat sich eigentlich durch meine gesamte politische Arbeit gezogen.

ZUSATZFRAGE JUNG: Sie haben das Pariser Klimaschutzabkommen angesprochen. Beunruhigt es Sie, dass Ihre eigene Partei in ihrem Wahlprogramm Klimaschutzmaßnahmen aufzählt, die nicht mit dem Pariser Klimaschutzabkommen kompatibel sind? Sie ist neben der AfD die einzige Partei, bei der das so ist.

BK’IN DR. MERKEL: Worauf sprechen Sie jetzt an? Auf die Verrechnung mit Entwicklungsmaßnahmen oder mit Maßnahmen, die nicht in Deutschland durchgeführt werden?

ZUSATZFRAGE JUNG: Unter anderem. Man bekennt sich zur Klimaneutralität, aber es wird nicht aufgezählt, mit welchen Maßnahmen Deutschland dies unter einer von Herrn Laschet geführten Bundesregierung erreichen kann. Dieses Wahlprogramm ist nicht kompatibel mit Paris. Das sagen alle Experten. Beunruhigt Sie das?

BK’IN DR. MERKEL: Nun ja, ich sehe die Ziele zunächst einmal als sehr kompatibel mit dem, was wir auch als Koalition beschlossen haben. Es wird dann der Koalitionsvereinbarung und den Verhandlungen überlassen bleiben, dies konkret auszufüllen. Es gibt klare Vorgaben für die Zunahme des Ausbaus erneuerbarer Energien. Einige Maßnahmen können gar nicht national umgesetzt werden, sondern werden jetzt durch das Paket „Fit for 55“ durchgesetzt.

Zu der Anrechnung von Investitionen auch außerhalb Deutschlands oder der Europäischen Union stehe ich kritisch, weil ich glaube, dass das letztlich von Paris nicht anerkannt wird und dass wir uns vor allem auf Maßnahmen konzentrieren sollten, die auch wirklich mit dem Pariser Abkommen vereinbar sind.

FRAGE HELLER: Wo werden Sie am Tag der Bundestagswahl, am 26. September, gegen 18 Uhr sein?

BK’IN DR. MERKEL: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber ich werde schon Verbindung zu der Partei haben, die mir nahe deren Mitglied ich bin.

(Heiterkeit)

– Sie steht mir nahe, und ich bin ihr Mitglied. Das ist ein doppeltes Bekenntnis.

FRAGE MAIER: Frau Bundeskanzlerin, Sie gelten als Kanzlerin aus Ostdeutschland, so gesehen, als biografischer Ausnahmefall. Nachdem Sie 16 Jahre lang Regierungschefin und Repräsentantin in der ganzen Welt waren, wie wichtig ist Ihnen persönlich nach all diesen Jahren überhaupt noch diese Herkunft?

BK’IN DR. MERKEL: Ohne Herkunft keine Zukunft. Natürlich ist meine Herkunft Teil meiner Biografie. Ich habe in der ehemaligen DDR 34 Jahre meines Lebens gelebt. Das hat mich geprägt. Das ist doch ganz klar. Über diese Herkunft habe ich ja auch gesprochen. Ich wünschte mir darüber haben wir auch schon oft geredet in der Breite der Führungsfunktionen in Deutschland noch mehr Menschen mit ostdeutscher Biografie. Mit zunehmendem Zeitablauf relativiert sich das natürlich, weil es diese klassische ostdeutsche Biografie für die unter 30- oder unter 35-Jährigen gar nicht mehr gibt. Aber ich bin mit mir, meinem Leben und meiner Biografie sehr im Reinen und glaube, dass diese Biografie gute Möglichkeiten bietet, Beiträge zum gesamtdeutschen politischen Leben zu leisten.

FRAGE GATHMANN: Mir ist Ihr Engagement im Klimaschutz und gegen den Klimawandel immer noch nicht klar. Ist ein Schuss Selbstkritik dabei, wenn Sie Sätze sagen wie, es sei nicht ausreichend viel passiert, oder sind Sie wirklich der Meinung, dass Sie in den Jahren Ihrer Kanzlerschaft das maximal Mögliche in dieser Frage getan haben?

BK’IN DR. MERKEL: Ich bin der Meinung, dass ich sehr viel Kraft für den Klimaschutz aufgewandt habe und immer auch, gerade in der Zeit, in der ich Parteivorsitzende war, in der CDU sehr dafür geworben habe, den Klimaschutz nicht aus den Augen zu verlieren und ihn beständig voranzutreiben. Trotzdem bin ich ausreichend mit wissenschaftlichem Verstand ausgerüstet, um zu sehen, dass die objektiven Gegebenheiten zeigen, dass man in dem Tempo nicht weitermachen kann, sondern dass diese es erfordern, schneller zu werden. Das ist die Dualität dessen, was ich sagen kann. Aber ich glaube, dass ich schon beachtlich viel Kraft und auch ein hohes Maß an Kontinuität eingesetzt habe.

VORS. BUSCHOW: Es tut mir echt leid. Es ist Murphys Gesetz, das ausgerechnet heute unsere Tonanlage nicht mehr so richtig will. Ich überlege gerade, ob Sie versuchen können, Ihre Frage sehr laut zu stellen. Es tut mir total leid für die, die das dann in der Übertragung nicht hören können.

BK’IN DR. MERKEL: Sie können sie dann ja wiederholen.

FRAGE GEERS: (…)

BK’IN DR. MERKEL: Ich teile Ihre Einschätzung zu den Impfstoffen und auch zu Corona nicht. Wenn wir uns dies einmal im internationalen Vergleich anschauen, so sind wir beim Impfen jetzt sehr schnell vorangekommen. Ich glaube, dass es absolut richtig war, dass sich Deutschland nicht die maximale Anzahl an Impfdosen besorgt und alle anderen europäischen Länder vergessen hat. Ich glaube, es war auch richtig, einen großen Teil der europäischen Produktion nicht für Europa einzubehalten, sondern mit der Welt zu teilen. Das zeichnet uns aus. Darauf können wir auch stolz sein. Wenn wir sehen, dass wir dadurch vielleicht ein oder zwei Monate später sind als viele andere Länder, die gar nichts weggegeben haben, dann ist das sehr gut gewesen. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir die Menschen bitten müssen, sich impfen zu lassen, damit wir die Pandemie auch wirklich überwinden.

Was den Coronaverlauf als Ganzes anbelangt, so haben wir sehr vieles richtig gemacht, auch was den Schutz unserer Wirtschaft anbelangt. Unser Gesundheitssystem hat sich als sehr leistungsfähig herausgestellt. Wir konnten anderen Ländern, auch unseren Nachbarstaaten, in der Pandemie helfen. Wir haben an einigen Stellen einige Dinge nicht so gut gemacht. So hat es z. B. lange gedauert, bis es gelungen ist, die Altenheime zu schützen. Wir haben eine tolle Bundeswehr gehabt und viele freiwillige Helfer. Insgesamt würde ich, sowohl was die wirtschaftlichen Konsequenzen als auch was die gesundheitlichen Auswirkungen anbelangt, sagen: Wenn Sie sich Vergleichskurven anschauen, so gibt es viele Länder, die einen schwierigeren Stand haben.

Sie haben auch die Digitalisierung angesprochen. Dazu muss man sagen, dass wir besser sein könnten und sollten. Es geht zum Teil sehr langsam voran. Das mag damit zusammenhängen, dass wir eine recht gute Verwaltung haben, die glaubt, auch ohne Digitalisierung weiter gut arbeiten zu können. Deshalb bedarf es oft eines großen Kraftaktes, um die Gemeinsamkeit von Bund, Ländern und Kommunen zu erreichen. Damit sind wir in den letzten Jahren vorangekommen, aber da gibt es zu tun, und es gibt Länder, die zum Teil kleiner sind als wir, also weniger Einwohner haben, und uns deutlich voraus sind. Ich denke an Estland und an die skandinavischen Länder. Wichtige Pflöcke sind eingeschlagen worden. Nun muss es nur noch bundesweit ausgerollt werden, wobei ich an das Onlinezugangsgesetz denke.

Also: Wir sind ein starkes Land. Das hat sich bei Corona, bei den Wirtschaftshilfen, gezeigt. Schauen Sie, hier wurde fast die Hälfte der Anträge auf wirtschaftliche Unterstützung in Europa gestellt. Da kann man wirklich nicht sagen, dass wir kein kraftvolles Land sind. Aber wir haben an einigen Stellen zu tun, um den hohen Standard, den wir haben, aufrechtzuerhalten. Die Welt entwickelt sich außerordentlich dynamisch fort. Schauen Sie sich die Investitionspakete des amerikanischen Präsidenten an: 250 Milliarden Dollar in drei Jahren für die Entwicklung der modernsten Chips. Wenn wir das auf Europa umrechnen und sagen, wir wollen auch weltmarktführend werden, dann wissen wir, vor welchen großen Herausforderungen wir stehen, um bei dieser Entwicklungsgeschwindigkeit, sei es bei Chips, sei es beim Quantencomputing, sei es bei Batteriezellen, mithalten zu können. Das sehe ich als eine zentralen Aufgaben der nächsten Jahre an.

Ich bin froh. Ich habe von 2005 an immer gesagt, dass ich möchte, dass unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung, wie schon im Jahr 2000 in der Lissabonner Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union versprochen, 3 % des Bruttoinlandsprodukts erreichen Wir liegen heute deutlich über 3 %. Wir lagen einmal deutlich darunter. Das ist ein guter Anfang, aber wir müssen in Richtung 3,5 % gehen. Wir sind eines der ganz wenigen europäischen Länder, die das haben. Wir sind das europäische Land, das mit die geringste Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen hat. Als ich Bundeskanzlerin geworden bin, gab es 5 Millionen Arbeitslose. Heute sind es weniger als 3 Millionen, trotz der Krisen, der internationalen Finanzkrise, der internationalen Herausforderungen im Hinblick auf Corona.

Es gibt also viel zu tun, aber wir brauchen unser Licht wirklich nicht unter den Scheffel zu stellen.

FRAGE MARSCHALL: Sie haben in Ihrer Amtszeit etliche Krisen bewältigen müssen. Deshalb bezeichnen Sie viele als Krisenkanzlerin. Freuen Sie sich über diese Bezeichnung?

BK’IN DR. MERKEL: Wenn man Krisen zu bewältigen hat, ist das meist mit sehr großen Herausforderungen, auch mit der Gefährdung von Arbeitsplätzen oder von Menschenleben, verbunden. Insofern ist es wünschenswert, dass man möglichst wenig Krisen hat. Aber die Welt ist, wie sie ist, und Politik hat die Aufgaben zu bewältigen, die anstehen.

In der Tat gab es eine Reihe von Herausforderungen, die im Grunde alle geopolitischer Natur waren. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise war ja keine von Deutschland gemachte Krise, sondern ging sehr stark von den Vereinigten Staaten von Amerika aus. Die Euro-Herausforderung war schon eher auf die Europäische Union konzentriert, ging aber auch nicht in dem Sinne von Deutschland aus. Die Anforderungen, die wir mit den vielen Flüchtlingen zu bewältigen hatten, hatten auch geopolitische Ursachen. Ähnlich ist es jetzt mit der Pandemie. Das heißt, was meine Amtszeit durchzogen hat, ist die Tatsache, dass wir unsere Herausforderungen nicht alleine mit nationaler Politik bewältigen können, sondern dass wir Teil einer Weltgesamtheit sind. Das ist ja auch das, was wir beim Klima sehen, wobei es nie heißen kann: Weil alle dazu beitragen und Deutschland nur 2 % des CO2-Ausstoßes weltweit zu verzeichnen hat, ist dies eine Legitimation, zu wenig zu tun. Wir alleine werden aber das Weltklima nicht verändern können, wir alleine werden die Pandemie nicht bekämpfen können, aber die Art und Weise, wie wir es machen, kann Beispiel für andere sein, uns zu folgen. Das ist das Verständnis, das wir haben sollten.

Ein Leben ohne Krisen ist natürlich einfacher, aber wenn es sie gibt, müssen sie bewältigt werden. Dafür sind wir Politikerinnen und Politiker.

FRAGE NEHLS: Bedauern Sie, dass Hightechfirmen des befreundeten Landes Israel qua freier Marktwirtschaft die Presse- und Meinungsfreiheit vor allem in autoritär regierten Staaten untergraben helfen, und was ließe sich dagegen unternehmen?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass es wichtig ist, dass für bestimmte Situationen ausgerichtete Software nicht in falsche Hände kommt. Das bedeutet, dass ganz restriktive Bedingungen vorhanden sind und dass man solche Software auch nicht an Länder verkaufen sollte, in denen z. B. eine gerichtliche Überwachung solcher Angriffe vielleicht nicht gesichert ist.

FRAGE GAMMELIN: Ich möchte noch einmal auf die Wiedervereinigung zu sprechen kommen. Mit Ihrem Abschied geht ja auch ein Kapitel, der Wiedervereinigungsprozess, zu Ende. 16 Jahre standen Sie mit ostdeutscher Sozialisation an der Spitze. Worin, glauben Sie, ist das wiedervereinigte Land ein Stück weit östlicher geworden, und was ich sage es vereinfacht hat der Osten in das Land eingebracht? Was haben Sie durchsetzen können? Und finden Sie, dass das Land jetzt für einen westdeutschen Kanzler reif ist?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, es war zu jeder Zeit reif für einen westdeutschen Kanzler. Ich habe keine der Bundestagswahlen, die ich bestritten habe, unter die Maßgabe gestellt, wenn es jemand aus den alten Bundesländer würde, dann wäre das für die deutsche Einheit nicht gut. Immerhin hat Helmut Kohl die deutsche Einheit sehr gut gemanagt und sie international in Frieden, Freiheit, Anerkennung und Akzeptanz unserer Alliierten und Partner erreicht.

Ich glaube, dass es manchmal gar nicht einfach herauszufinden ist, was jemanden prägt. Ich bin Naturwissenschaftlerin. Das ist bei meinen Vorgängern nicht oft, um nicht zu sagen, wenn ich recht informiert bin, gar nicht, der Fall gewesen. Ich hatte eine DDR-Biografie. Das konnte naturgemäß vor der Wiedervereinigung nicht durchkommen. Das jetzt alles aufzudröseln, ist schwierig.

Ich habe immer versucht und mich, so glaube ich, auch weitestgehend daran gehalten, in Ost und West mit der gleichen Stimme zu sprechen, also nie zu versuchen, die unterschiedlichen Rezeptionen, die man findet, und den unterschiedlichen Kontext, aus dem die Menschen kommen, zu nutzen, um unterschiedliche Positionen zu vertreten. Das hat dazu geführt, dass ich nicht immer allen gefallen habe. Wenn ich etwas aus der alten Bundesrepublik in die Argumentation für die neuen Länder aufgenommen habe, dann war das oft nicht ganz einfach, ob das nun Eigentumsfragen waren, ob das Fragen der Biografie von Frauen mit Blick auf das Rentensystem waren, ob das Scheidungsfragen waren, ob es Fragen der Zusatzversicherung waren. Was ich wohl einbringen konnte, war ein recht gutes gesamtdeutsches Wissen, weil ich von der DDR wusste.

Bundeskanzlerin kann man mit Sicherheit nur werden, wenn man möglichst viel darüber weiß, wie es in der alten Bundesrepublik gelaufen ist. Es gibt Dinge, die ich nicht nachholen kann. Ich bin nie in einem alten Bundesland zur Schule gegangen. Das heißt, ich weiß nicht, wie es damals mit der Kultushoheit war. Ich bin nie in einem alten Bundesland umgezogen. In der DDR wäre das kein Thema gewesen, weil man einen zentralen Schulplan hatte. So fehlen mir natürlich bestimmte Bruchstücke. Aber ich glaube, das Gesamtsystem kenne ich recht gut.

Ich wünschte mir, wenn jetzt jemand aus der alten Bundesrepublik Bundeskanzler werden sollte, dass es einfach weiterhin ein großes Interesse für Biografien aus der ehemaligen DDR gibt, weil die Verletzungen, die Gefühle, die Anerkennung und der Kontext etwas sind, um das man sich auch nach wie vor kümmern sollte, um ganz Deutschland zu verstehen. Ich sehe aber durchaus dieses Bestreben aller Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt.

FRAGE STEMPFLE: Frau Bundeskanzlerin, die Genfer Flüchtlingskonvention wird nächste Woche 70. Gleichzeitig muss man aber anerkennen, dass sie an der EU-Außengrenze oft gar nicht mehr eingehalten wird. Stichworte sind Push-backs in Griechenland, aber auch, dass bei Flüchtlingen an der EU-Außengrenze gar nicht geprüft wird, ob sie asylberechtigt sind. Manche werden sogar verprügelt; Ungarn und Kroatien sind Stichworte. Wie bewerten Sie das, gerade jetzt zum Geburtstag der Flüchtlingskonvention?

BK’IN DR. MERKEL: Zuerst einmal kann man, glaube ich, mit Fug und Recht sagen, dass Europa dort nicht alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise, aber, wenn wir es uns anschauen, Deutschland, aber auch Frankreich und andere schon einen großen Beitrag dazu leistet, dass wir Flüchtlingen vor Krieg und Verfolgung Asyl gewähren und damit schon einen viel höheren Beitrag als noch vor einigen Jahren dazu leisten, dies zu unterstützen.

Zweitens muss man sagen, dass es immer wieder auch kritische Situationen gibt. Deshalb gibt es ja die Untersuchungen bei Frontex. Wir sind natürlich verpflichtet, diese Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten. Ich bin auch dafür. Wir müssen weiterhin anerkennen, dass es nicht ganz einfach ist, wenn sich erweist, dass jemand keine Berechtigung für Asyl und Aufnahme innerhalb der Europäischen Union hat, Menschen auch wieder in ihre Heimat zurückzuführen. Das führt dazu, dass wir letztlich noch keinen Zustand erreicht haben, den ich mir wünschen würde, nämlich dass es legale Migration gibt, dass wir denen, denen wirklich geholfen werden muss, helfen können und dass wir nicht letztlich Schlepper und Schleuser in erheblichem Maße agieren lassen, die nicht immer den Menschen helfen, die es wirklich am meisten brauchen. Ich würde mir idealerweise vorstellen, dass wir, wenn wir Menschen aufnehmen, die verfolgt sind und die vor allen Dingen auch humanitär in Notlagen sind, dies eben zusammen mit dem UNHCR oder Ähnlichem machen, und davon sind wir noch sehr weit entfernt. Außerdem das muss sehr kritisch angemerkt werden ist es nach wie vor nicht gelungen, eine gemeinsame Asylpolitik für die Europäische Union festzulegen. Das ist etwas, das in den nächsten Jahren unbedingt gelöst werden muss, weil das eine schwere Bürde für den Zusammenhalt der Europäischen Union ist. Aber Sie sehen ja zum Beispiel, wenn Sie sich anschauen, was an der belarussisch-litauischen Grenze passiert, dass mit dem Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention inzwischen einfach auch vonseiten Herrn Lukaschenkos Politik in einer Weise gemacht wird, die nicht akzeptabel ist.

FRAGE PAPPAS: Vor ziemlich genau einem Jahr haben Sie in dem Streit um die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer und im Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei vermittelt. Jetzt, ein Jahr später, eskaliert mit dem Besuch des türkischen Präsidenten Erdoğan in den besetzten Gebieten Zyperns und seinen Ankündigungen die Spannung wieder. Sind die Verhandlungen gescheitert? Wie stark wird die Eskalation die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU beeinträchtigen?

BK’IN DR. MERKEL: Mein Grundsatz ist es immer, zu sagen, dass ich jetzt nicht vom Scheitern von Verhandlungen spreche. Es gibt Rückschläge, es gibt Fortschritte. Wir sind glücklicherweise dazu gekommen, dass die Explorationsgespräche zwischen Griechenland und der Türkei wieder aufgenommen worden sind. Es gab jetzt auch Treffen des griechischen Ministerpräsidenten mit dem türkischen Präsidenten. Wir haben uns auch immer wieder dafür eingesetzt, diese Gesprächskanäle aufrechtzuerhalten, und haben gerade im Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei dabei auch einige kleinere Schritte erreicht.

Das wird jetzt dadurch erschwert, dass der türkische Präsident gerade mit Blick auf Zypern abweichend von den UN-Resolutionen ausschließlich auf eine Zweistaatenlösung setzt, die von der griechisch-zyprischen Seite natürlich nicht akzeptiert wird. Auch hier müssen wir jetzt wirklich versuchen, diese ja unter der Ägide der Vereinten Nationen geführten Gespräche mit einem langen Atem das ist ein dickes Brett, das da zu bohren ist aber doch in die richtige Richtung zu lenken. Dafür war das jetzt sicherlich ein Rückschlag. Aber von solchen Rückschlägen darf man sich jetzt auch nicht entmutigen lassen.

FRAGE GRIMM: Frau Merkel, nach 16 Jahren und vielen internationalen Staats- und Regierungschefs, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, mit welchem oder mit welcher hatten Sie das beste persönliche Verhältnis, und warum?

BK’IN DR. MERKEL: Nein, das werde ich jetzt nicht im Sinne von Notengeben beantworten; denn wir sind als Regierungschefs und ich bin als deutsche Regierungschefin verpflichtet, mit anderen gut zusammenzuarbeiten. Ich habe oft erlebt, dass ganz unterschiedliche Ausgangspositionen trotzdem zu sehr fruchtbringenden Gesprächen und auch zu Lösungen geführt haben, durch die man vorangekommen ist. Ich habe erlebt, dass ich unglaublich viel über die Kultur anderer Länder und auch das Fühlen und Denken lernen konnte, indem ich mich auf vertrauensvolle Gespräche eingelassen habe.

Ich habe Menschen getroffen, die in hohem Maße auch meiner Meinung sind. Nun könnte man denken, dass es dann immer besonders einfach ist. Das ist es ja auf eine bestimmte Art auch. Aber ich habe es auch immer als im guten Sinne herausfordernd empfunden, Menschen als Staats- und Regierungschefs zu treffen, die ganz anders an die Dinge herangehen. Deshalb habe ich viele, viele gute Erfahrungen gemacht und auch in den allermeisten Fällen erlebt, dass Vertrauen zwischen Regierungschefs herrscht. Das dabei ab und an auch kleine Enttäuschungen dazugehören, ist klar. Dass ich damals im Zusammenhang mit der NSA nicht begeistert war, ist bekannt. Das hat aber jetzt einer guten Zusammenarbeit mit Präsident Obama auch keinen Abbruch getan.

FRAGE GILLMANN: Sie sind in Ihrer Amtszeit nicht als Feministin aufgefallen. Hat sich Ihre Haltung zur Rolle und Förderung der Frauen in den 16 Jahren verändert?

FRAGE VON FALLOIS: Würden Sie sagen, dass es deutliche Unterschiede in der Art gibt, in der Frauen oder Männer Politik machen?

BK’IN DR. MERKEL: Um mit dem Zweiten zu beginnen: Es gibt auch deutliche Unterschiede in der Art, in der Frauen Politik machen. Frauen und Männer sind ja nicht zwei Gruppen, die dann irgendwie alle gleich sind. Es gibt verschiedene Männer, es gibt verschiedene Frauen, und insofern ist es sehr schwer, da Charakteristika festzustellen. Tendenziell, glaube ich, gibt es bei Frauen eine gewisse Sehnsucht nach Effizienz, aber da gibt es auch Ausnahmen. Insofern will ich das nicht so charakterisieren.

Was die Frage nach dem Feminismus anbelangt, gab es ja ein Ereignis im Zusammenhang mit dem Frauentreffen im G20-Rahmen, bei dem mir dann eine Feminismusdefinition dabei geholfen hat, zu sagen, dann könnte ich auch Feministin sein. Ansonsten, glaube ich, gibt es wirklich viele Frauen, die sehr viel mehr für die Gleichberechtigung von Mann und Frau getan haben. Trotzdem habe ich auch einiges auf den Weg gebracht, und zwar nicht nur wegen meines weiblichen Geschlechts, sondern auch, weil ich mit wachsender Zeit als Politikerin gesehen habe, dass von alleine ziemlich wenig geht und dass doch immer wieder Maßnahmen notwendig wurden, von denen ich am Anfang gedacht habe, das würde auch mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung gehen. Ich muss schon sagen: Selbst als wir Brücken gebaut haben, unsere ersten Gleichstellungsgesetze gemacht und gesagt haben, jeder müsse einen Bericht schreiben sollte einmal ein Unternehmen sagen, in den nächsten Jahren sehe es keine Steigerung des Frauenanteils vor, dann würde es schon ein Unternehmen sein, das triftige Gründe hat , hat eine große Zahl von Unternehmen doch einfach irgendwie völlig ungerührt geschrieben: Keine Aussicht auf Besserung; wir haben halt einen Frauenanteil von null in Führungspositionen, und das wird auch so bleiben. – Das hat mich dann schon dazu gebracht, dass ich mich jetzt zum Schluss auch dafür eingesetzt habe, selbst für Vorstände eine Mindestquote einzuführen. Das hätte ich mir 1990, als ich in die Politik ging, alles einfacher vorgestellt, muss ich ganz ehrlich sagen.

Wir haben ja, wenn man sich heute noch einmal die Diskussionen vor Augen führt, die geführt wurden, als wir für die Aufsichtsräte ein Frauenquorum eingeführt haben, darüber gesprochen, dass keine Frauen da sind, wie schlimm das alles ist usw. In der Praxis ist das null Komma null Problem. Natürlich sind Frauen da, und natürlich geht das alles. Ich bin froh, dass wir jetzt im Wesentlichen auch von dieser Drittel-Frauenquote weg sind, sondern einfach sagen: Gleichberechtigung heißt, dass der Anteil von Männern und Frauen im Wesentlichen gleich ist.

Ich habe auch viel darüber nachgedacht, dass Frauenförderung ohne Veränderung männlicher Verhaltensmuster gerade bei der Aufteilung der Aufgaben in Familie und Beruf überhaupt nicht denkbar ist. Ansonsten würden die Frauen völlig überfordert werden, weil sie dann alles super leisten müssen. Deshalb ist es im Grunde eine große Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Realität, die ja bei den jüngeren Familien heute auch besser klappt. Was hat Ursula von der Leyen noch für Diskussionen gehabt, als man das Elterngeld auch für Väter eingeführt hat! Dann ging das alles prima, und aus dem Wickelvolontariat ist eigentlich eine hoch akzeptierte Sache geworden, an der viele Familien viel Freude haben und viele junge Väter auch Freude haben. Ich kann das auch im Kanzleramt beobachten, und es ist wunderschön zu sehen, wie sich die Dinge unter den jungen Familien da ganz selbstverständlich auch ein bisschen verändern.

FRAGE DUDIN: Frau Bundeskanzlerin, beim Bundeswehrabzug aus Afghanistan wurden die afghanischen Ortskräfte zurückgelassen, und sie werden massiv von den Taliban bedroht. Es wurden zwar Visa ausgegeben, aber viel zu wenige. Viele können sich auch den Flug nach Deutschland nicht leisten. Können Sie es moralisch vertreten, dass Menschen, die so lange an der Seite deutscher Soldaten und Polizisten gestanden haben, einfach im Stich gelassen werden?

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben darüber jetzt gerade noch einmal im Kabinett gesprochen. Unser Ziel ist, dass diejenigen, die ab 2013 für Deutschland gearbeitet haben, auch die Möglichkeit bekommen, nach Deutschland zu kommen, wenn sie das wünschen, um eben genau nicht bedroht zu werden. Ich setze mich sehr dafür ein, dass wir pragmatische Lösungen finden, soweit das in unserer Hand liegt, und das heißt eben auch, dass der Flug nicht daran scheitern darf, dass man das Geld nicht hat. Darum werden wir uns kümmern. Das heißt gegebenenfalls auch, über Charterflugzeuge nachzudenken. Ich möchte, dass wir denen, die uns sehr stark geholfen haben, auch wirklich einen Ausweg bieten.

So, wie Sie es jetzt absolut gesagt haben, also dass wir niemandem helfen, ist es ja nicht. Es gibt Fälle, in denen diese Hilfe noch nicht gelungen ist. Es ist auch nicht ganz einfach, die afghanischen Voraussetzungen einzuhalten, aber darüber will ich jetzt gar nicht sprechen. Von unserer Seite aus habe ich gerade gestern im Kabinett noch einmal für eine möglichst pragmatische Lösung geworben.

ZUSATZFRAGE DUDIN: Aber warum passiert das Ganze zu spät? Ist da viel versäumt worden, bevor die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen ist?

BK’IN DR. MERKEL: Erstens war der Abzugszeitraum jetzt natürlich auch nicht sehr lang; das muss man sagen. Wir haben in der Tat eine Weile darüber diskutiert, wie viele Jahre wir zurückgehen. Erst hat man „zwei Jahre“ gesagt, und ich habe mich dann auch dafür eingesetzt, dass es um den Zeitraum bis 2013 geht. Dadurch gibt es jetzt in einer bestimmten Gruppe Menschen, die noch nach Deutschland kommen müssen, und für die müssen wir jetzt auch vernünftig vorsorgen.

FRAGE DR. RINKE: Frau Bundeskanzlerin, gestern gab es eine Einigung zwischen den USA und Deutschland in Bezug auf das Projekt Nord Stream 2. Ich hätte ganz gerne gewusst, ob Sie glauben, dass damit alle Sanktionen, die von der US-Seite kommen könnten, beseitigt sind. (…)

BK’IN DR. MERKEL: Nein, ich glaube, dass die Einigung mit der US-Regierung die Differenzen nicht zementiert, aber sie überwindet auch nicht alle Differenzen. Die Differenzen bleiben bestehen. Das hat man ja gestern auch an den Reaktionen gesehen. Dies ist der Versuch, zwischen der amerikanischen Regierung und uns sozusagen bestimmte Konditionen festzulegen, die ja auch umgesetzt werden müssen, um deutlich zu machen, dass uns gerade von deutscher Seite sehr wichtig ist, dass die Ukraine ein Transitland bleibt und dass Energie eben nicht dazu genutzt werden kann, dass die Ukraine in eine schwierigere Situation gerät.

Das Abkommen oder der Text wurde mit der amerikanischen Regierung abgeschlossen. Der amerikanische Kongress ist natürlich noch einmal eine davon zu trennende Institution, wie meine Absprachen mit anderen Ländern ja auch nicht automatisch dazu führen, dass der gesamte Deutsche Bundestag sagt, das finde er jetzt richtig und gut. Das heißt, ich bin froh, dass uns das insoweit gelungen ist. Natürlich haben wir auch eine ganze Menge an Aufgaben, insbesondere die, zu schauen, wie wir auch noch längere Vertragszeiten für die Ukraine erreichen können, wie wir auch den Transformationsprozess der Energieversorgung der Ukraine unterstützen können und wie wir auch die Anbindung der Ukraine an europäische Gasversorgungssysteme durch „reverse flow“ voranbringen können.

Das ist also ein guter Schritt, der auch Kompromissbereitschaft von beiden Seiten erfordert hat, auf der anderen Seite aber nicht alle Divergenzen, die am Tag davor bestanden haben, überwindet.

ZUSATZFRAGE DR. RINKE: (…)

BK’IN DR. MERKEL: Na ja, es gibt jetzt den Bau von Nord Stream 2. Dann gibt es die Betriebsgenehmigung. Dann gibt es das dritte Energiebinnenmarktpaket, in dem es ja auch immer Anforderungen an die Gasbetreiber geben muss. Dann haben wir natürlich auch die Möglichkeit, von der ich nicht Gebrauch machen möchte, aber die wir ja immer haben, auch im Zusammenhang mit der Krim oder mit Donezk und Lugansk, Sanktionen zu verhängen. Wir sind ja also nicht ohne jedes Mittel, etwas zu tun. Darauf hoffe ich nicht, und die russische Seite hat ja heute noch einmal gesagt, dass sie Energie nicht als Waffe einsetzen will. Das ist ja auch eine Aussage. Nehmen wir sie beim Wort. Das heißt also nicht, dass wir von unserer Seite aus vollkommen wehrlos sind, wenn wir uns die politischen Rahmenbedingungen, unter denen dieses Projekt abläuft, anschauen.

FRAGE SUNAGA: Halten Sie die Entscheidung für den Atomausstieg angesichts des Klimawandels immer noch für richtig ? Denken Sie nicht, dass die Entscheidung im Nachhinein zu rasch war?

BK’IN DR. MERKEL: Ich halte sie für richtig, jedenfalls als deutsche Bundeskanzlerin für die Bundesrepublik Deutschland. Es gibt Länder, die sich anders entscheiden und es damit an einigen Stellen auch einfacher haben werden, die Klimaneutralität zu erreichen. Trotzdem halte ich die Kernenergie auf lange Sicht für keine nachhaltige Energieerzeugungsform. Aber wir haben schon erhebliche Diskussionen innerhalb der Europäischen Union über die Rolle der Kernenergie. Es ist auch sehr interessant, mit Fridays for Future über die Rolle der Kernenergie zu sprechen. Da steht die Klimaneutralität angesichts der großen Herausforderungen schon sehr stark im Vordergrund.

Für Deutschland sind die Würfel gefallen. Wir haben uns für den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden. Angesichts unserer Gesamthaltung sehe ich nicht voraus, dass irgendeine zukünftige Bundesregierung das noch einmal verändern wird. Aber wir müssen dann eben auch sehr konsequent die erneuerbaren Energien ausbauen.

Für eine Übergangszeit brauchen wir auch noch das Erdgas das ist die Folge davon , weil Erdgas sehr viel umweltfreundlicher ist, als die Kohle. Insofern können wir also jetzt nicht, wie es manche fordern, aus der Kernenergie und aus der Kohle aussteigen und dann auch noch aus dem Erdgas möglichst sofort aussteigen. Das wird nicht möglich sein.

Wir müssen mit allem Nachdruck an der Produktion von grünem Wasserstoff arbeiten. Auch hier haben wir eine Menge Fragestellungen. Darf man zwischendurch noch an der Herstellung von blauem Wasserstoff arbeiten? Ich neige dazu, das nicht völlig auszuschließen, einfach deshalb, um die Skalierung besser hinzukriegen und zu lernen, wie man Wasserstoff überhaupt produziert. Aber auch darüber wird es weiterhin wie jetzt schon verschiedene Auseinandersetzungen geben.

Insgesamt also ein ganz klares Bekenntnis dazu, dass ich den Ausstieg aus der Kernenergie für Deutschland für richtig halte.

FRAGE HEINRICH: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte noch einmal zum Klimaschutz nachhaken. Sie haben gesagt, man solle nicht so tun, als sei nichts passiert. Jetzt gibt es gerade junge Menschen, unter anderem die Hunderttausende, die für Fridays for Future auf die Straße gehen, die sagen: In der Breite der politischen Landschaft und gerade bei den Parteien, die Ihnen nahestehen, wie sie gesagt haben, hat man nach wie vor nicht begriffen, wie dramatisch die Lage ist und wie dringend es ist, mehr zu tun.

Was ist Ihre Antwort auf diesen Vorwurf?

BK’IN DR. MERKEL: Meine Antwort ist so, wie ich es schon gesagt habe, dass 40 Prozent erneuerbare Energien sicherlich noch nicht ausreichen, aber immerhin ein deutlicher Fortschritt gegenüber zehn Prozent sind, und dass wir, wenn wir es politisch sehen, Menschen auch ermutigen müssen, den Weg weiterzugehen, und nicht nur sagen dürfen, was noch nicht ausreicht.

Auf der anderen Seite mahnt die wissenschaftliche Evidenz zu noch mehr Eile. Darüber spreche ich immer wieder, wenn ich Vertreterinnen oder Vertreter von Fridays for Future treffe. Wir als Politikerinnen und Politiker müssen dafür Mehrheiten finden. Das ist unsere Aufgabe. Das ist manchmal nicht ganz so einfach. Denn die, die bei Fridays for Future sitzen, sind ja für uns Antriebskraft das ist positiv , aber sie sind eben nicht die einzige Meinung, die in Deutschland existiert. Jetzt würde Luisa Neubauer wahrscheinlich sagen, dann müsse ich mich halt mehr anstrengen. Dann würde ich sagen, dass ich mich anstrenge und auch versuche zu überzeugen, dass wir dafür aber auch parlamentarische Mehrheiten brauchen. Für diese zu kämpfen, ist meine Aufgabe. Natürlich wünschte auch ich mir manchmal, dass es dabei etwas schneller ginge.

Auf jeden Fall darf man das Gesamtzielt nicht aus den Augen verlieren, weshalb ich auch gerade das Einfordern der Jugend für sehr wichtig halte. Denn es gibt ja durchaus große Erfolge. Denken Sie etwa an das Bundesverfassungsgerichtsurteil. Das ist wegweisend gewesen und hat uns noch einmal sozusagen ermutigt, auch parlamentarische Mehrheiten dafür zu finden, dass wir stärker an die CO2-Minderung herangehen können.

ZUSATZFRAGE HEINRICH: Wenn Sie eine Entscheidung zum Klimaschutz in Ihren 16 Jahren Kanzlerschaft heute anders treffen könnten, welche wäre es?

BK’IN DR. MERKEL: Es sind immer diese Fragen nach der einen Entscheidung. Ich habe sehr lange am Kyoto-Protokoll festgehalten. Das war ein Fehler, weil es nicht durchsetzbar war, dass man es international verbindlich macht. Vielleicht hätte man den Weg der freiwilligen Verpflichtungen schneller gehen sollen und wäre dann schneller bei so etwas wie dem Pariser Abkommen angelangt.

Ansonsten fehlt uns nach wie vor etwas. Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden, wir alle noch nicht. Wir müssen versuchen, auch die Menschen im ländlichen Raum, die die Aufstellung der Windkraftanlagen zu verkraften haben auch die Solarenergie kommt ja sehr stark dorther, aber vor allem die Windkraft, die ja doch ein zentraler Punkt ist , an den Segnungen, also an dem Guten, zu beteiligen. Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, für die Menschen, die neue Energietransportleitungen, also die HGÜ und Ähnliches, haben und deren Lebensqualität sich ja objektiv verändert und für viele aus deren Perspektive auch verschlechtert, ein Incentive, einen Anreiz zu setzen, dass das für etwas Wichtiges und Gutes ist. Dann hätten wir weniger Wiederstand bei den ganzen Planungen und Ausbauten, und dann würde das schneller gehen. Denn die Frage, wie wir unsere Energieleitungen hinkriegen und wie wir mehr Ausbau von Windenergie kriegen, wird uns ja die nächsten Jahre über wirklich begleiten.

FRAGE JORDANS: Glauben Sie, dass es Politikern vor allem vor der Wahl schwerfällt, den Wählern klar zu benennen, wie drastisch die Veränderungen sein müssen, um das Pariser Klimaziel zu erreichen?

BK’IN DR. MERKEL: Das glaube ich nicht, weil im Wettstreit der Parteien ja doch alle sagen, was passieren muss. Wir brauchen mehr Energieleitungen. Wir brauchen mehr erneuerbare Energien. Das alles wollen wir aber trotzdem innerhalb eines Rechtsstaats machen. Wir wollen die Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger ja auch nicht zunichtemachen. Wir haben zum Teil Instanzen eingespart, weil wir gesagt haben: Das sind strategisch wichtige Konzepte und Infrastrukturprojekte. Aber ich denke schon, dass wir sehr deutlich sagen, wie sich die Dinge verändern werden.

Wir müssen auch schauen, dass das Ganze sozial gerecht zugeht. Ich habe eben über Stadt und Land gesprochen; ich könnte jetzt auch über Ausgleich sprechen. Der Faktor der sozialen Gerechtigkeit wird die Debatte sehr stark bestimmen. Ich sage auch immer wieder da muss ich manchmal auch Widerstände, auch in meiner eigenen Partei, überwinden : Ich kann nicht eine Bepreisung von CO2 einführen und anschließend eine Carbon-Leakage-Verordnung machen, die jedem, der etwas mehr zahlen muss, das sofort wieder zurückgibt, sondern ich muss versuchen, durch intelligente technologische Lösungen neue Wege zu gehen, und das muss angereizt werden. Die totale Kompensation für jeden kann es nicht geben, sondern wir müssen das Ganze ja dahin drängen. Wir können Zuschüsse geben, wir können Anreize geben, aber wir müssen zum Schluss unsere Energie anders erzeugen, unsere Wohnungen dämmen und vieles andere mehr. Manches ist, wie gesagt, in Gang gekommen; vieles muss sehr viel schneller gehen.

FRAGE GLEITSMANN: Frau Bundeskanzlerin, es ist heute Ihre vermutlich letzte Sommerpressekonferenz. Sie haben noch wenige Wochen als Bundeskanzlerin. Wie fühlen Sie sich dabei? Stellen sich dabei schon wehmütige, nostalgische Gefühle ein?

Worauf freuen Sie sich am meisten für Ihre Zeit als Privatperson Angela Merkel?

BK’IN DR. MERKEL: Ich finde, dass mich jede Woche nach wie vor sehr fordert. Sehen Sie sich die Ereignisse an: Wir sind in einer Situation, in der die Infektionszahlen wieder steigen. Wir haben jetzt das schreckliche Hochwasser. Ich kann also nicht sagen, dass im Augenblick keine Aufgaben da wären, die man zu lösen hätte. Wir haben die Phase der Gesetzgebung eigentlich abgeschlossen und machen jetzt vielleicht doch einmal wieder ein Gesetz, wenn es notwendig sein sollte, um zusammen mit den Bundesländern den Fonds zu speisen.

Ich werde und bin also gefordert. Das wird sich auch bis zum letzten Tag meiner Amtszeit fortsetzen. Das will ich auch so machen, wie ich es immer getan habe.

Deshalb ist auch wenig Zeit und Raum, sich mit der Zeit danach zu beschäftigen. Sie wird kommen. Ich habe neulich an der Johns-Hopkins-Universität einen kleinen Einblick gegeben. Darüber hinaus fällt mir jetzt nicht viel ein. Aber ich darf Ihnen sagen, dass ich auch für die verbleibende Zeit, in der ich Bundeskanzlerin bin, die Arbeit gern mache und trotzdem die Herausforderungen jetzt nicht gleich null sind, sondern durchaus gewaltig, und zwar in vielerlei Hinsicht.

Wir haben jetzt hier ganz viel über Klimaschutz gesprochen. Wir haben die Verhandlungen in Europa vorzubereiten. Die Verhandlungen für das für das Paket „Fit for 55“, also für das Klimaschutzpaket der Europäischen Union, werden in die Zeit fallen, ab September, in der in Deutschland die Hochphase des Wahlkampfs sein und dann die Regierungsbildung stattfinden wird. Es wird jetzt, ohne einer neuen Regierung vorzugreifen, ganz wichtig sein, auch in der Zeit des Übergangs immer eine Positionierung einer Bundesregierung zu haben, die uns keine Nachteile bei den Verhandlungen bringt. Denn das wollen wir nicht. Wir müssen schauen, dass wir selbst dort gute Angebote für die Klimareduktion bei uns machen. Wir müssen aber auch gucken, dass es innerhalb der Europäischen Union insgesamt gerecht zugeht. Andere werden für ihre Positionen auch sehr stark kämpfen. Das geht vom Auto bis zum „effort sharing“ und vielen, vielen Fragen. Es sind ja über zehn Rechtsakte, die wir bearbeiten müssen. Ich werde auch sehr einen Blick darauf haben, dass wir da eine gute Übergabe an die nächste Bundesregierung machen.

ZUSATZFRAGE GLEITSMANN: Also noch keine Freude auf Ausschlafen oder Memoirenschreiben?

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe auf meine Johns-Hopkins-Aussage hingewiesen. Ich werde mit der Zeit dann schon etwas anfangen können.

FRAGE EDDY: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben erwähnt, wie zerstritten es in Amerika zwischen der Bundesregierung und dem Kongress ist. Auch in der Gesellschaft geht der Streit weiter. Aber man sieht auch in Deutschland, dass die Gesellschaft immer wieder streitet.

Machen Sie sich Sorgen um die Demokratie im Westen? Was haben wir Ihrer Meinung nach dagegen zu tun?

BK’IN DR. MERKEL: Unsere offenen Gesellschaften sind unter großem Druck. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass wir zum einen eine möglichst gute soziale Kohärenz haben, also das, was wir in Deutschland mit sozialer Marktwirtschaft beschreiben. Das halte ich schon für etwas sehr Wichtiges. Man wird nie erreichen, dass sich alle gerecht behandelt fühlen das ist ja auch der politische Wettbewerb: Wer kann besser überzeugen? , aber ich glaube schon, dass man Menschen gegen bestimmte Risiken gut versichern muss und ihnen damit auch die Möglichkeit gibt, an der Gesellschaft nicht zu verzweifeln oder sich nicht vernachlässigt zu fühlen.

Das Zweite ist, dass ich sehr dafür plädiere, dass Gesprächsbereitschaft erhalten bleibt. Da, wo Gesprächsbereitschaft verlorengeht, wo die politische Auseinandersetzung so hart wird und auch in persönlicher Herabwürdigung endet, endet oft auch die Möglichkeit, überhaupt noch Brücken zu bauen. Das sehe ich schon mit Sorge, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern.

Deshalb ist der Kampf für die politische Aussage, dass der Kompromiss etwas Konstitutives jeder Demokratie sein muss und nicht der Kompromiss als solcher schon etwas Schlechtes oder mit einer schlechten Konnotation behaftet ist, wie ich finde, ganz, ganz wichtig. Ihn werde ich immer führen. Der politische Kompromiss ist das Machbare und das Notwendige, um Gesellschaften zusammenzuhalten, weil wir nie alle morgens in einer Gesellschaft aufstehen und die gleiche Idee, den gleichen Gedanken haben werden. Es ist ja gerade das Spannende, dass die Menschen unterschiedlich sind.

Das Dritte, was uns durch die Digitalisierung erhebliche Schwierigkeiten macht und was auch sozusagen die Grundlagen der Aufklärung fast ein bisschen infrage stellt, ist, dass Gefühle oder Emotionen mit Fakten vermischt werden. Das sind zwei unterschiedliche Kategorien. Fakten sind Fakten und müssen beachtet werden. Man kann sie nicht sozusagen gegen Gefühle aufwiegen nach dem Motto: Weil mir etwas nicht passt, halte ich irgendetwas, was objektiv richtig ist, nicht für richtig. Natürlich muss ich Gefühle achten. Wie in einer guten Zeitung es war früher so; ich weiß nicht, ob auch heute noch Sachverhalt und Kommentar zwei unterschiedliche Kategorien sind, so ist es wichtig, dass wir als aufgeklärte westliche Gesellschaften auch die Faktenbasiertheit unserer Argumentation hochhalten.

FRAGE KREUTZFELDT: Ihr möglicher Nachfolger Armin Laschet hat das Wissenschaftsverständnis der AfD teilweise gelobt. Er stellt die Klimabilanz falsch dar und scheint nicht zu verstehen, wie exponentielles Wachstum funktioniert. Macht Ihnen als Naturwissenschaftlerin dies Sorgen?

BK’IN DR. MERKEL: Das kann ich jetzt nicht bestätigen. Ich denke, alle haben inzwischen das exponentielle Wachstum verstanden, auch parteiübergreifend.

Ich denke, bei der Wissenschaft ist es so: Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es objektive Gegebenheiten gibt. Diese müssen akzeptiert werden. Wissenschaft hat eine Arbeitsmethodik, die sauber und in sich schlüssig sein muss. Trotzdem können Wissenschaftler auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Es gibt die Wissenschaft, aber es gibt nicht die Gleichheit des Ergebnisses wissenschaftlicher Überlegungen. Gerade in den Geisteswissenschaften kann man natürlich durch sehr saubere wissenschaftliche Arbeit sehr unterschiedliche Ergebnisse haben. Selbst in den Naturwissenschaften gibt es ja lange wissenschaftliche Streite darüber, was wirklich richtig, was überprüfbar und was nachweisbar ist.

Insofern ist mir sehr wichtig, dass wir unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen akzeptieren können. Aber die wissenschaftliche Methodik muss klar sein, und nicht jeder kann sich als Wissenschaftler bezeichnen.

FRAGE REITSCHUSTER: Frau Bundeskanzlerin, Ihr Außenminister Heiko Maas hat gesagt: Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben, dann gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung. Das ist Ende Juli bzw. im August der Fall.

Was sehen Sie konkret anders als Herr Maas? Woher kommt dieser Riss innerhalb der Bundesregierung?

BK’IN DR. MERKEL: Wir werden Ende Juli, Anfang August nicht für jeden Menschen ein Impfangebot haben, weder für die Kinder von null bis elf, noch werden wir eine Empfehlung der STIKO für die Kinder von zwölf bis 15 haben. In unserer Gesellschaft wird es immer Menschen geben, die sich per se nicht impfen lassen können oder die keine Immunantwort entwickeln. Auch diese Gruppe dürfen wir nicht außer Betracht lassen. Deshalb ist in unserem Verhalten auf diese Gruppen dann auch immer noch Rücksicht zu nehmen. Insofern sehe ich das schon etwas differenzierter.

Aber ich denke, dass sich die Bundesregierung noch immer auf vernünftige Maßnahmen geeinigt hat, und das werden wir auch weiter tun.

ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Jetzt haben Sie noch einen Riss aufgemacht, weil Ihr eigener Gesundheitsminister sagt, dass schon Ende Juli erreicht sein soll, dass alle geimpft werden können. Sie sagen jetzt: Das ist nicht so.

Herr Laschet hat eine viel weniger strenge Haltung in Sachen Corona als Sie. (…) Wie sehen Sie das?

BK’IN DR. MERKEL: Gibt es außer Rissen bei Ihnen überhaupt noch irgendetwas Zusammenhängendes?

ZUSATZ REITSCHUSTER: (…)

BK’IN DR. MERKEL: Meine Beobachtungen sind etwas anderer Natur. Wir haben natürlich immer wieder verschiedene Schwerpunkte und Schlussfolgerungen, was zu welchem Zeitpunkt passieren muss.

Also noch einmal: Der Bundesgesundheitsminister hat gesagt, dass für diejenigen, die sich impfen lassen können und für die ein Impfstoff zugelassen ist, ein Impfangebot besteht. Das ist Ende Juli der Fall.

Im Augenblick haben wir deshalb habe ich meine Eingangsworte so gewählt, wie ich sie gewählt habe ganz klar eher die Aufgabe, für das Impfen zu werben und die Impfbereitschaft abzurufen, indem wir zu den Menschen gehen und die Impfangebote nicht so fern von den Menschen machen, dass sie davon keinen Gebrauch machen. Deshalb die vielen mobilen Impfteams usw.

Ansonsten, was die augenblicklichen Coronamaßnahmen anbelangt, sehe ich keine Unterschiede zwischen Armin Laschet und mir. Wenn die Inzidenzen steigen, dann werden wir auch alles daransetzen, gemeinsame Lösungen zu finden.

FRAGE STEINKOHL: Frau Bundeskanzlerin, das ist hier heute Ihre vermutlich letzte Sommerpressekonferenz. Es sei denn, Sie entscheiden sich, nach der Sommerpause noch einmal zu kommen. Ich wüsste gerne

BK’IN DR. MERKEL: Dann ist es aber keine Sommerpressekonferenz mehr.

ZUSATZFRAGE STEINKOHL: Der Sommer geht bis zum 21. Ich wüsste gerne von Ihnen: War das hier eigentlich reine Pflichterfüllung für Sie, oder haben Sie sich auf uns Journalisten gefreut? (…)

Ergänzend: Was war eigentlich die größere Herausforderung: Befragung von Journalisten in der Bundespressekonferenz oder die Befragung durch die Abgeordneten in der Regierungsbefragung?

BK’IN DR. MERKEL: Jede Art von Befragung oder jede Art von Auftritt einer Bundeskanzlerin erfordert immer sorgfältige Vorbereitung. Ich habe mein Amt immer so verstanden – und werde das auch bis zum Ende so tun , dass ich die Termine mit Freude oder zumindest mit einer positiven Erwartung und einer guten Grundstimmung wahrnehme. Dazu gehört auch die Sommerpressekonferenz. Es ist ja auch spannend. Ich weiß ja nie, was Sie fragen. Insofern ist das immer wieder eine Überraschung. Das macht auch Freude.

FRAGE AHMAD-HEMKEN: Deutschland hat während Ihrer Amtszeit die Kurden im Kampf gegen den IS unterstützt. Glauben Sie, dass diese Unterstützung weitergeführt werden muss, damit die Menschen dort nicht flüchten müssen, auch mit Blick auf die Unterstützung in den jesidischen Gebieten?

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben uns immer bemüht, sowohl die jesidischen Menschen als auch die Kurden da, wo sie unterdrückt und angegriffen werden, zu unterstützen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten und auch im Rahmen der parlamentarischen Beschlüsse werden wir das mit Sicherheit fortführen. Ich kann jetzt den parlamentarischen Beschlüssen der Zukunft nicht vorgreifen. Aber für mich ist das eine wichtige Sache.

FRAGE ROSENFELDER: Frau Bundeskanzlerin, nach dem Bericht unseres Reporters stehen in Kabul Tausende vor dem Passamt und wollen nach Europa, vor allem nach Deutschland. Sehen Sie wie 2015 eine moralische Verpflichtung, diese Menschen, die vor dem Terror der Taliban fliehen, bei uns aufzunehmen?

BK’IN DR. MERKEL: Wir haben schon einmal über das Thema Ortskräfte und die Menschen, die uns als Deutsche bei unserem Bundeswehreinsatz in Afghanistan geholfen haben, gesprochen. Wir haben ja auch schon sehr viele afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Aber ich glaube, man muss sagen: Wir müssen anders an die Sache herangehen. Wir müssen alles tun, um gerade auch die politischen Verhandlungen in Afghanistan voranzubringen, damit Menschen in dem Land eben möglichst in Frieden leben können.

Deutschland hat seine Verantwortung im Blick auf die Genfer Flüchtlingskonvention immer so wahrgenommen, wie wir das gesagt haben. Aber wir können sicherlich nicht alles, was in Afghanistan an Schwierigem passiert, jetzt als Deutschland wieder kompensieren. Wir haben ja sehr viel getan. Wir wollen dort unsere Entwicklungszusammenarbeit fortsetzen, damit möglichst viele zur Schule gehen können und vieles andere. Aber es gibt auch sehr bitte Erfahrungen. So, wie es sie in Afghanistan gibt, gibt es sie auch leider in anderen Ländern der Erde. Nicht alle diese Probleme können wir dadurch lösen, dass wir die Menschen aufnehmen.

FRAGE KÜLAHCI: Frau Bundeskanzlerin, ich lese, dass es keine EU-Mitgliedschaft der Türkei geben wird. Das steht im Wahlprogramm von CDU/CSU. Ich weiß ja, dass Sie mit der Türkei und der EU Gespräche mit einem offenen Ende führen wollen. Ist das so zu verstehen, dass CDU und CSU jetzt die Türkei oder den türkischen Staatspräsidenten provozieren wollen, dass er die türkische Grenze aufmacht (…)

BK’IN DR. MERKEL: Sie kennen ja unsere Programme, die wir zu den Wahlen nicht erst jetzt, sondern schon über viele Jahre geschrieben haben. Sie kennen meine politische Meinung, dass ich eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht gesehen habe und auch nach wie vor nicht sehe, mich aber trotzdem für sehr gute Beziehungen mit der Türkei einsetze und deshalb auch dafür stark gemacht habe, dass das, was ja auch in dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei steht, umgesetzt wird, dass wir zum Beispiel die Gespräche über die Zollunion aufnehmen. Wir haben die Kommission mandatiert, jetzt an einem solchen Mandat für Gespräche mit der Zollunion zu arbeiten. Wir haben uns beim letzten Europäischen Rat entschieden, drei Milliarden Euro mehr für die Unterstützung der Türkei für die Arbeit mit den Flüchtlingen zu gewähren.

Genau über diese Themen bin ich mit Herrn Erdoğan im Gespräch. Ich glaube nicht, dass wir Flüchtlinge als politisches Instrument einsetzen sollten. Das sind Menschen. Die Türkei kümmert sich in herausragender Weise gerade um syrische Flüchtlinge und hat dort unglaublich viel geleistet. Wir haben sie dabei unterstützt, aber natürlich nur zu einem kleinen Teil. Ich möchte, dass dieses Abkommen mit der Türkei fortentwickelt wird. Das ist für die betroffenen Menschen das Beste.

FRAGE JOLKVER: Welchen Rat bezüglich der Beziehungen zu Russland würden Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger im Kanzleramt geben? Wie soll man sich verhalten, um im Gespräch mit dem russischen Präsidenten einen klaren Kopf zu behalten?

BK’IN DR. MERKEL: So wie mit jedem anderen Land führen wir unsere Gespräche immer auf der Basis unserer Werte, nach denen wir in Deutschland leben, und unserer Interessen, die wir haben. Ich glaube, dass wir immer ein Interesse daran haben sollten, mit Russland im Gespräch zu bleiben, wenngleich die Werte, die unser politisches Handeln dann auch bestimmen, zum Teil sehr unterschiedlich sind. Wenn ich daran denke das habe ich gestern wieder bedauernd und kritisch angemerkt , wie die Nichtregierungsorganisationen im Petersburger Dialog jetzt in ihrer Mitarbeit eingeschränkt wurden, was im Grunde die zivilgesellschaftlichen Kontakte sehr erschwert, dann ist das aus meiner Perspektive ein schwerer Rückschlag für die deutsch-russischen Beziehungen. Aber das führt mich nicht dazu, nicht mehr mit dem russischen Präsidenten zu sprechen.

Das heißt also: Auseinanderhalten, dass es sehr, sehr komplizierte und schwierige Situationen gibt, dass wir natürlich mit Minsk und der Ukraine sehr unterschiedliche Meinungen haben, aber trotzdem immer im Gespräch bleiben und versuchen, Lösungen zu finden.

FRAGE STRACK: Frau Bundeskanzlerin, eine Frage zum Thema Corona und zum internationalen Engagement Deutschlands. Derzeit wird der Sinovac-Impfstoff nach wie vor durch die EMA getestet. Es gibt bereits produzierte Chargen dieses Impfstoffs. Er ist in seiner Wirkung schlechter als die in Deutschland verwendeten Impfstoffe, aber er schützt zum Beispiel zu hundert Prozent vor den Tod durch Corona. Falls die EMA diesen Impfstoff freigeben würde, würden Sie dafür plädieren, den deutschen Anteil von 250 Millionen Einheiten, der ja reserviert ist, nach Lateinamerika als Entwicklungshilfe zu geben, in eine Region, die zurzeit dramatisch von Corona betroffen ist?

Würden Sie auch in Erwägung zu ziehen, durch das Paul-Ehrlich-Institut eventuell selber dem Impfstoff prüfen zu lassen und dann zur Verfügung zu stellen?

BK’IN DR. MERKEL: Die Notwendigkeit, den Impfstoff jetzt selber zu prüfen, sehe ich nicht, weil ich glaube, dass das bei der EMA in guten Händen ist.

Zweitens. Egal, welchen Impfstoffanteil wir jetzt haben: Wir haben uns verpflichtet, dass die Impfdosen, die wir nicht brauchen – wir haben uns jetzt erst einmal auf 30 Millionen festgelegt, aber das kann vielleicht auch mehr sein , an afrikanische Länder, an Länder Lateinamerikas oder an wen auch immer weiterzugeben. Wir wollen im Wesentlichen mit COVAX zusammenarbeiten und haben da auch erhebliche finanzielle Beiträge geleistet. Das heißt, wir werden jetzt nicht versuchen, auf Impfstoffen sitzenzubleiben und anderen keinen Impfstoff zu geben, sondern wir werden kalkulieren, was wir für uns brauchen.

Wir werden ja in absehbarer Zeit auch die Notwendigkeit haben, dass insbesondere ältere Menschen noch einmal eine dritte Nachimpfung bekommen. Aber so, wie wir Impfstoff bestellt haben, werden wir auch Impfstoff übrighaben. Den werden wir immer schnellstmöglich auch anderen zur Verfügung stellen. Aber eine Sonderzulassung für Sinovac durch das Paul-Ehrlich-Institut sehe ich nicht und auch keine Notwendigkeit dafür, zumal Sinovac schon auf der ganzen Welt verteilt wird.

FRAGE DELHAES: Eine Frage zum Stichwort Hochwasserschutz. Die Bundesregierung hat gut drei Jahre gebraucht, um einen Hochwasserschutzplan zu erstellen. Es hat viele Widerstände gegeben und nun einen Kompromiss. Wie bewerten Sie angesichts der neuerlichen Naturkatastrophe diesen politischen Prozess und das Ergebnis? Was muss sich in Zukunft ändern?

BK’IN DR. MERKEL: Der bisherige Hochwasserschutz hat sich ja sehr stark an den länderübergreifenden Flüssen orientiert, an Elbe, Rhein und ähnliche Flüsse. Die Ergebnisse hängen nicht nur von der Bundesregierung ab, sondern auch von den Gesprächen mit den Ländern. Jetzt haben wir eine ganz andere Form von Hochwasser in dem Sinne gehabt, dass dort, wo man eigentlich an Hochwasser gewöhnt war an kleineren Flüssen, die ja nicht die Begradigungen zu beklagen hatten, sondern durchaus noch ihre natürlichen Verläufe , exorbitantes Hochwasser aufgetreten ist. Welche Schlussfolgerungen man daraus zieht, muss man jetzt sehen.

Ich habe heute Berichte gelesen, dass man sich darauf vorbereitet hatte, bei einem Hochwasser von 3,70 Meter noch einmal 50 Zentimeter draufzugeben. Wenn man sich zum Schluss auf zweieinhalb Meter höher hätte einstellen müssen, muss jetzt vollkommen neu nachgedacht werden, wie dann überhaupt Schutzvorrichtungen aussehen.

Das Problem dieses Hochwassers war ja, dass die Menschen vor Ort gar nicht glauben konnten Ich war in Schuld. Dort war der höchste Hochwasserstand 3,70 Meter, und jetzt waren es 8,80 oder 8,87 Meter. Das entzog sich der Vorstellungkraft der Menschen vor Ort. Ich glaube, da sind verschiedenste schwierige Faktoren zusammengekommen: die verstopften Brücken, die genässten Böden und vieles andere mehr. Das muss aufgearbeitet werden, und dann werden daraus die Schlussfolgerungen gezogen.

FRAGE ROMANIEC: Frau Merkel, zurück zu Nord Stream 2. Sie haben gerade das Joint Statement mit den USA verteidigt. In Osteuropa wird das aber durchaus heute schon als deutsches Geschenk an Putin bezeichnet, weil es eine klare Partnerinteressenpriorisierung sichtbar macht. Wenn es hart auf hart kommt, ist für Deutschland am Ende Russland als Partner wichtiger als die Ukraine und Polen?

BK’IN DR. MERKEL: Nein, überhaupt nicht. Darum geht es nicht, sondern es geht darum, für ein Projekt, das in seiner politischen Bewertung von verschiedenen Ländern unterschiedlich gesehen wird, Kompromisswege zu finden. Ich glaube, durch dieses Joint Statement werden die Schwerpunkte für die Ukraine, die wir unterstützen und die ich immer auch ganz persönlich unterstützt habe, richtig gesetzt. Deshalb ist dieses Joint Statement aus meiner Sicht auch für die Ukraine gut.

ZUSATZFRAGE ROMANIEC: Ich habe es vorhin nicht so richtig verstanden. Wenn es zu keiner Verlängerung dieses Transitvertrags mit der Ukraine kommt, wäre das für Sie ein Punkt, der ausreichen würde, Sanktionen zu verhängen oder nicht?

BK’IN DR. MERKEL: Solche Was-wäre-wenn-Fragen möchte ich nicht beantworten und habe sie nie beantwortet. Sondern ich sage: Wir verpflichten uns, mit Russland das werden wir gemeinsam mit Russland machen , darüber zu sprechen, wie auch über 2024 hinaus ein Vertrag geschafft werden kann. Ich habe schon erlebt, dass bei dem vorherigen Vertrag gesagt wurde: Die Verlängerung werdet ihr nie schaffen.

Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, haben dafür sehr gearbeitet und haben das geschafft. Jetzt gehe ich so daran, dass ich das wieder schaffen will oder hoffe, dass diejenigen, die mir nachfolgen, das mit dem Eifer genauso machen.

FRAGE: (…) Armin Laschet hat gesagt, dass die Regelung keinen Bestand haben werde. Teilen Sie diese Auffassung? Haben Sie hier einen Fehler gemacht?

Grundsätzlicher: Wie bewerten Sie den Zickzackkurs von Armin Laschet in der Klimapolitik?

BK’IN DR. MERKEL: Ich sehe da keinen Zickzackkurs.

Ich teile die Meinung von Armin Laschet bezüglich der Tatsache, dass man nicht sagen kann: Hundert Prozent soll der Mieter tragen und null Prozent der Vermieter. Wir haben als Bundesregierung einen anderen Vorschlag gemacht, der in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion keine Mehrheit gefunden hat. Er ist auch recht holzschnittartig, nämlich 50/50.

Die Wahrheit ist und da muss die Lösung gefunden werden; das ist aber nicht ganz unkompliziert : Wenn ich einen Vermieter habe, der alles getan hat, um die bestmögliche Energieeffizienz für die vermietete Wohnung zu finden, ist von da an natürlich der Mieter mehr in der Verantwortung, was zum Beispiel den Stromverbrauch angeht, als wenn ich einen Vermieter habe, der nichts in die Sanierung seiner Wohnung investiert hat, was die Energieeffizienz anbelangt.

Mit einer 50/50-Regelung tue ich so, als ob alle Vermieter und alle Häuser gleich sind. Das ist natürlich weit von der Realität entfernt. Deshalb muss man versuchen – und zwar so, dass es nicht so bürokratisch wird; da ist uns bis jetzt noch nichts Gutes eingefallen –, verschiedene Klassen von vermieteten Wohnungen zu finden, die eben energetisch saniert oder nicht saniert sind und danach dann die Beteiligung des Mieters regeln. Das ist bis jetzt nicht gelungen.

ZUSATZFRAGE: Welchen Zeitraum sehen Sie, bis dieser oder der nächsten Regierung etwas Kluges einfällt?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dieser Regierung wird dazu nichts mehr einfallen, sondern das muss sehr schnell in den Koalitionsverhandlungen bearbeitet werden. Bis jetzt ist ja der CO2-Preis auch noch nicht so hoch, dass daraus so dramatische Ungleichgewichte entstehen. Denn wir haben ja auch die EEG-Umlage abgesenkt. Das heißt, der Mieter profitiert von der Senkung der EEG-Umlage. Aber wenn wir schrittweise Steigerungen des CO2-Preises haben, wird es ein größeres Problem. Bis dahin muss das gelöst sein.

FRAGE ZIEDLER: Frau Bundeskanzlerin, ich habe Ihren Antworten entnommen, dass Sie noch nicht so gerne über die Zeit danach sprechen wollen, aber durchaus schon Bilanzen (…) Deshalb die Frage: (…) Was bedauern Sie am meisten in Ihrer Amtszeit? Auf der anderen Seite: Worauf sind Sie am meisten stolz?

BK’IN DR. MERKEL: Na ja, die Bilanzen im Allgemeinen sollten andere machen. Das wird auch stattfinden.

Ich habe ja heute schon einige Zahlen genannt, was sich verändert hat. Ich freue mich einfach, dass wir, was die Zahl der Arbeitslosen angeht, von über fünf Millionen trotz großer Herausforderungen wirtschaftlicher Art heute bei unter drei Millionen sind und dass wir gerade bei der Jugendarbeitslosigkeit eigentlich ganz gut dastehen. Wir müssen aber auch gucken, dass das so bleibt.

Meinen letzten schwerwiegenden Fehler in Bezug auf die Osterruhe habe ich ja vor Ihnen allen bekannt. Der ist in meinem Gedächtnis noch präsent.

FRAGE BRAUNE: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in den vergangenen Jahren in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ehrenhalber den Titel der schwäbischen Hausfrau getragen. (…) Sind Sie dafür, dass die Vorgaben der Schuldenbremse im Grundgesetz schnellstmöglich wieder eingehalten werden oder sind Sie offen auch für Reformen an dieser Stelle, wie es Ihr Kanzleramtsminister vor ein paar Monaten in einem Beitrag gefordert hat?

BK’IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass es richtig war, dass wir seitens der Regierung jetzt noch einen Haushalt mit einer mittelfristigen Finanzplanung aufgestellt haben, der bis 2025 geht und der unter den Auspizien oder unter der Geltung der Schuldenbremse gemacht wurde. Das hat meine volle Zustimmung gefunden.

VORS. BUSCHOW: Dann danke ich Ihnen heute für die Flexibilität bei den Fragestellungen und bitte, die technischen Fehler zu entschuldigen. Das wollten wir nicht.

Ich danke vor allen Dingen auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin. Es stimmt wahrscheinlich, dass es Ihre letzte Sommerpressekonferenz war. Unser Büro, das immer sehr präzise arbeitet, hat nachgezählt: Es war Ihre 29. Pressekonferenz in der Bundespressekonferenz. Wie lange Sie noch im Amt sind, welche aktuellen Gelegenheiten es noch gibt, wissen wir nicht. Insofern sage ich gerne: Alle guten Dinge sind 30. Wir würden auch den Ton reparieren. Ich sage für heute tschüss und danke schön!

BK’IN DR. MERKEL: Keine weiteren Versprechungen. Aber ich sage auch danke schön! Es war mir eine Freude.

 

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