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Bundesregierung für Desinteressierte: BPK vom 23. Februar 2022

Themen: Kabinettssitzung (Entwurf eines Gesetzes zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, Entwurf einer Verordnung zur Verlängerung von Regelungen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, im Bundesausbildungsförderungsgesetz und anderen Gesetzen aus Anlass der COVID-19-Pandemie, Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus), Beauftragter der Bundesregierung für Antiziganismus, Verhandlungen über einen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Sinti und Roma, Nord Stream 2, Gaspreis, Planung von Flüssiggasterminals in Deutschland, Russland-Ukraine-Konflikt, COVID-19-Pandemie, Hinzuverdienstgrenze bei Minijobs, Laufzeit von Atomkraftwerken in Deutschland

Themen/Naive Fragen zu:
00:00 Beginn
00:29 Bericht aus dem Kabinett
03:07 Antiziganismus
04:53 Tilo zu armutsfestem Mindestlohn
08:00 Hans zu armutsfestem Mindestlohn
08:44 Antiziganismus II
10:05 Ukraine/Russland
16:45 Tilo zu Nord Stream 2 Stopp
26:15 Hans zu OSZE/Nord Stream 2
36:47 Tilo zu Putins TV-Show
38:07 Bundeswehr auf Instagram
39:46 Tagung Bundessicherheisrat
40:21 Corona
43:55 Hans zum Pflegebonus
45:53 Mindestlohn II
47:22 Tilo zu Mindestlohn in Behindertenwerkstätten
50:03 Atomkraftwerke verlängern

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Komplettes BPK-Wortprotokoll vom 23. Februar 2022:

VORS. WOLF eröffnet die Pressekonferenz und begrüßt STS HEBESTREIT sowie die Sprecherinnen und Sprecher der Ministerien.

STS HEBESTREIT: Herzlich willkommen auch von mir! Heute hat das Bundeskabinett getagt. Drei Entscheidungen will ich Ihnen näherbringen.

Der erste Punkt: Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf eines Gesetzes zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns beschlossen. Keine sechs Monate nach der Bundestagswahl hat es damit ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag bereits auf den Weg gebracht. Der Entwurf sieht vor, den gesetzliche Mindestlohn zum 1. Oktober dieses Jahres auf 12 Euro brutto je Stunde anzuheben. Über weitere Anpassungsschritte im Anschluss wird dann wieder die unabhängige Mindestlohnkommission befinden.

Da sich die Anhebung des Mindestlohns auch auf geringfügig entlohnte Beschäftigung auswirkt, sogenannte Minijobs, wird die Minijobgrenze auf 520 Euro erhöht und auch künftig angepasst. Damit ist eine Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zum Mindestlohn gesichert.

Gleichzeitig werden mit dem Gesetz Maßnahmen getroffen, die die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung fördern und die zugleich verhindern helfen, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht werden. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, den Mindestlohn in einem einmaligen Schritt auf 12 Euro zu erhöhen. Genau das wird jetzt vollzogen.

Der zweite Punkt ist der Entwurf einer Verordnung zur Verlängerung von Regelungen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, im Bundesausbildungsförderungsgesetz und anderen Gesetzen aus Anlass der COVID-19-Pandemie oder, verkürzt, die Verlängerung der Vereinfachung des Zugangs zur Grundsicherung. Dieser vereinfachte Zugang gilt seit geraumer Zeit. Wir verlängern ihn noch einmal über den 31. März 2022 hinaus. Daher sollen die zentralen Regeln weiterhin gelten. Das heißt, die Vermögensprüfungen werden nur eingeschränkt durchgeführt, übrigens auch beim Kinderzuschlag, und die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung werden übernommen. All dies geschieht selbstverständlich mit Blick auf die Pandemie und die Auswirkungen, die uns alle leider noch weiterhin beschäftigen.

Dann habe ich noch eine Personalie, weil wir das bei den letzten Malen ja immer nachgefragt hatten. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Reem Alabali-Radovan, ist seit heute auch noch Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. Dazu gibt es auch eine eigene Pressemitteilung aus dem Haus. Ich wollte es nur der Vollständigkeit halber erwähnen.

FRAGE BUSCHOW: Heute wurde auch eine Strategie gegen Antiziganismus beschlossen wurde. Herr Hebestreit, ist denn schon absehbar, wann der auch im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte Antiziganismusbeauftragte berufen werden wird?

STS HEBESTREIT: Damit halten wir es wie immer: Wenn es entschieden ist, dann vermelden wir es hier, wie ich es die letzten Mittwoche auch getan habe. Wenn es so weit ist, dann melde ich mich.

ZUSATZFRAGE BUSCHOW: Meine Frage zur beschlossenen Strategie gegen Antiziganismus geht an das Innenministerium. In der vergangenen Legislatur gab es Verhandlungen über einen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Sinti und Roma, der auch so habe ich es verstanden Ausfluss der Ergebnisse der unabhängigen Kommission Antiziganismus war. Gehen diese Verhandlungen weiter? Strebt auch die neue Ministerin einen Staatverstrag an?

KALL: Dazu kann ich Ihnen sagen, dass wir zu der Strategie mit dem Zentralrat der Sinti und Roma in engem Kontakt sind. Neuigkeiten in Bezug auf einen Staatsvertrag kann ich Ihnen noch nicht nennen.

FRAGE JUNG: Ich habe eine Frage zum Mindestlohn an das BMAS. Ich habe zuletzt die Zahlen von 2018 gesehen. Ihr Ministerium hatte ausgerechnet, wie hoch ein Mindestlohn sein muss, damit er armutsfest ist, das heißt, damit Bezieherinnen und Bezieher im Alter nach 45 Jahren mit Vollbeschäftigung nicht auf die Grundsicherung zurückgreifen müssen. 2018 lag Ihr Mindestlohn bei 12,63 Euro.

Wie hoch wäre ein armutsfester Mindestlohn im Jahre 2022, und warum wurde der Mindestlohn nicht mindestens auf diese 12,63 Euro angehoben?

GÖPNER-REINECKE: Erst einmal ist es eine gute Nachricht für über sechs Millionen Beschäftigter, die nun vom höheren Mindestlohn 12 Euro pro Stunde; Herr Hebestreit hat die Details genannt profitieren werden. Der Minister hat heute im Interview auch noch einmal betont, dass dieser höhere Mindestlohn, ein armutsfesterer Mindestlohn, für ihn eine Frage der Leistungsgerechtigkeit ist und auch eine Frage des Respekts gegenüber Menschen, die hart arbeiten, und dass der Mindestlohn in Höhe von 12 Euro für bestimmte Einkommensgruppen bis zu 22 Prozent mehr Lohn bedeutet. Das heißt, es ist ein Mindestlohn, der für sehr viele Menschen einen sehr entscheidenden Unterschied im Einkommen machen wird. Das ist eine kräftige Lohnerhöhung. Weitere Zahlenspiele können andere anstellen.

STS HEBESTREIT: Ich darf vielleicht ergänzen, Herr Jung. Sie werfen ja einen berechtigten Punkt auf: Könnte es nicht noch mehr sein? Man muss sagen, dass es einen langen politischen Kampf darum gab, den Mindestlohn zum einen überhaupt erst einzuführen das ist, wenn ich mich richtig erinnere, 2013 bzw. in der Folge nach der Wahl gelungen und zum anderen jetzt diesen gehörigen Sprung zu schaffen, in einer Koalition mit drei Koalitionspartnern und unterschiedlichen Interessen. Das ist jetzt erst einmal der Punkt, den wir sehr positiv hervorheben.

Gleichzeitig ist ja auch vereinbart, dass die Mindestlohnkommission immer wieder das Umfeld überprüfen wird und dass gegebenenfalls auch Anpassungen gemacht werden.

Aber jetzt erst einmal diesen großen Schritt in einem Satz, wenn ich in diesem Bild bleiben darf, zu vollziehen, ist wirklich ein großer politischer Erfolg. Ich glaube, den kann man auch würdigen.

ZUSATZFRAGE JUNG: Den Wurf kann man ja anerkennen. Aber weil Sie von „armutsfester“ gesprochen haben, noch einmal die Frage: Sie haben ja 2018 festgestellt, was ein armutsfester Mindestlohn wäre. Warum wissen Sie das denn heute nicht? Warum behaupten Sie, dass das jetzt ein armutsfesterer wäre, wenn selbst der aktuelle Mindestlohn noch unter Ihrem armutsfesten Mindestlohn, den Sie ausgerechnet haben, ist?

GÖPNER-REINECKE: Nicht armutsfester als die Zahl, die Sie genannt haben, sondern es ist ein armutsfesterer Mindestlohn als der zurzeit bestehende. Ich kann noch einmal darauf verweisen, dass es eine kräftige Lohnerhöhung für Millionen von Menschen ist. Ich glaube, die braucht man jetzt nicht kleinzureden, sondern die kann man als das stehenlassen, was sie ist.

FRAGE JESSEN: Da Ihr Ministerium für das Jahr 2018 ja ausrechnen konnte, wie hoch ein Mindestlohn sein müsste, um nach 45 Jahren nicht sozusagen in der Grundsicherung zu landen, können Sie das doch bestimmt auch für das Jahr 2022 ausrechnen oder haben es schon getan. Würden Sie uns die entsprechende Zahl bitte nachlegen, damit wir die Differenz zwischen dem anzuerkennenden Schritt, der getan wurde, und dem, was nach den Berechnungen Ihres Hauses eigentlich noch fehlt, erkennen? Können Sie das bitte nachliefern?

GÖPNER-REINECKE: Ich kann gern prüfen lassen, was an entsprechenden Auswertungen es noch gibt.

WOLF: Ich komme auf den Antiziganismusbeauftragten oder die beauftragte zurück. Die Kollegin Clasmann will wissen, in welchem Ministerium diese oder dieser Beauftragte angesiedelt wird. BMI oder BMFSFJ?

Können Sie uns vielleicht zumindest sagen, ob es schon einen Personalvorschlag gibt und ob derjenige oder diejenige zwingend der Minderheit angehören wird?

STS HEBESTREIT: Damit halte ich es, wie wir es hier bei Personalfragen immer handhaben, nämlich: In dem Moment, in dem wir etwas zu kommunizieren haben, tun wir das in der Umfänglichkeit, die dafür dann geboten ist. Aber vorher spekulieren wir nicht.

Zu den beiden Fragen, wo das ressortiert, kann ich nichts sagen. Ich weiß nicht, ob das BMI oder das BMFSFJ schon etwas dazu sagen kann. Ansonsten gilt es auch diesbezüglich abzuwarten.

KALL: Genau. Das kann ich für das BMI nur insofern ergänzen, als dass wir dazu innerhalb der Bundesregierung im Gespräch sind. So wie die Strategie jetzt gemeinsam entstanden ist, so wird es dann natürlich auch über die Ansiedlung und die Benennung eine gemeinsame Entscheidung geben.

VORS. WOLF: Ich kann noch ergänzen, dass das BMFSFJ heute nicht vertreten ist. Sollte es über das Gesagte hinaus Ergänzungen geben, würde ich um eine Nachreichung bitten.

FRAGE LENZ: Meine Frage geht an das Bundeswirtschafts- und klimaschutzministerium. Frau Dr. Baron, wie bewerten Sie das Risiko möglicher Regressforderungen des Betreiberkonsortiums von Nord Stream 2 für den Fall, dass eine Betriebsgenehmigung dauerhaft nicht erteilt werden kann?

DR. BARON: Ich möchte hier nicht über Hätte, Wenn und Aber spekulieren. Wir haben gestern einen Verfahrensschritt verkündet. Wir haben das Zertifizierungsverfahren vorläufig gestoppt, indem wir den Versorgungssicherheitsbericht der Vorgängerregierung von Oktober 2021 zurückgezogen haben und ihn einer Neubewertung unterziehen. Diese Neubewertung ist nach unserer Einschätzung juristisch zwingend erforderlich, weil sich die Sach- und Rechtslage immens verändert hat. Das bezieht sich auf die Wintermonate, die Veränderung von Preisen, von Lieferströmen, aber natürlich auch die Eskalation in der Ostukraine.

Das ist der Stand der Dinge. Wir werden jetzt eine Neubewertung vornehmen. Damit ist erst einmal nichts darüber gesagt, wie diese Neubewertung am Ende aussehen wird. Wir werden uns diese Fragen, ob die Versorgungssicherheit gefährdet ist, jetzt sehr genau anschauen und sie sehr genau analysieren.

ZUSATZFRAGE LENZ: Sind mögliche Regressforderungen Bestandteil dieses Prüfverfahrens, oder spielen sie keine Rolle?

DR. BARON: Nein, das spielt keine Rolle. Der Prüfungsmaßstab ist durch das Energiewirtschaftsgesetz klar vorgegeben. Er ist so beschrieben, dass die Prüfung beinhalten muss, ob die Zertifizierung einer solchen Leitung und eines Betreiberkonsortiums eine Gefährdung für die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa ist. Das ist der Prüfungsmaßstab, und diese Frage werden wir uns sehr genau anschauen.

VORS. WOLF: Ich bleibe bei Nord Stream 2. Der Kollege Dolgunov von TASS fragt digital: Wie lange wird es dauern, bis die Bundesregierung einen neuen Sicherheitsbericht vorbereitet hat? Wer entscheidet am Ende über die Zertifizierung? Ist das die Bundesnetzagentur, oder hat sich etwas im Verfahren verändert?

STS HEBESTREIT: Im Verfahren hat sich gar nichts geändert. Entscheidend ist das, was die Bundesnetzagentur dazu sagt. Die Erstellung der Analyse der Versorgungssicherheit wird ihre Zeit dauern. Das haben der Bundeskanzler und auch der Bundeswirtschaftsminister schon gestern und auch heute zu unterschiedlichen Gelegenheiten angekündigt. Dem kann man jetzt nicht vorgreifen. Das werde dauern, war, glaube ich, der Satz von Herrn Bundeskanzler Scholz.

FRAGE DR. RINKE: Frau Baron, sehen Sie als Folge der Entscheidung um Nord Stream 2 und dieser erneuten Prüfung eine Auswirkung auf die Gaspreise? Die amerikanische Regierung hat ausdrücklich gesagt, dass sie keine Sanktionen gegen den Öl- und Gassektor verhängen wolle. Mit Blick auf die dann zu erwartenden Preissteigerungen und angesichts der derzeitigen Inflationsraten sei das im Moment nicht opportun.

DR. BARON: Sie sprechen in Ihrer Frage verschiedene Ebenen an. Zunächst möchte ich noch einmal betonen das hat der Minister sowohl gestern als auch heute deutlich gemacht , dass die Versorgungssicherheit aktuell weiterhin gewährleistet ist. Wir haben Maßnahmen ergriffen, um bei den Speicherständen wieder zu einigen Verbesserungen zu kommen. Wir werden auch weitere Maßnahmen ergreifen, um Energiesicherheit zu stärken und Importabhängigkeit zu reduzieren. Die Bundesregierung tut also das Notwendige, damit die Versorgung gesichert ist.

Was Ihre Frage zu den Preisen angeht: Auch dazu hat sich der Minister geäußert. Natürlich gibt es kurzfristige Effekte an den Märkten. Bei Lagen von Unsicherheit und Eskalation ist es immer der Fall, dass es kurzfristige Preisreaktionen an den Märkten gibt.

Mittelfristig ist der Weg klar: Wir müssen unabhängiger von fossilen Importen werden, und wir müssen den Erneuerbarenausbau vorantreiben. Dieser Weg wird mittelfristig zu stabileren Preisen führen.

Über die Entwicklung von Sanktionsmaßnahmen will ich hier nicht spekulieren. Die EU hat gerade erst erste Sanktionspakete auf den Weg gebracht. Über Weiteres in diesem Zusammenhang will ich nicht spekulieren.

FRAGE LEHMANN: Frau Baron, Herr Habeck hat sich kürzlich auch dafür ausgesprochen, deutsche Flüssiggasterminals zu planen bzw. konkrete Schritte dahin zu unternehmen, um unabhängiger von russischem Gas zu werden.

Welche konkreten Schritte sind geplant, und über welchen Zeitrahmen sprechen wir?

DR. BARON: Ja, das ist richtig. Zur Frage, wie wir Importabhängigkeit reduzieren können, gehören verschiedene Fragen. Natürlich gehört auf der einen Seite ganz klar der Erneuerbarenausbau dazu, aber auf der anderen Seite eben auch die Frage nach infrastrukturellen Verbesserungen. Das sind ganz klar LNG-Terminals und alle netzinfrastrukturellen Fragen, die sich daran anschließen. Dazu sind wir im Austausch innerhalb der Bundesregierung, aber auch insgesamt.

Ich kann Ihnen noch keine genauen Pläne dafür nennen. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich das jetzt angesichts laufender Gespräche nicht tun kann.

ZUSATZFRAGE LEHMANN: Für wann wird denn eine dahingehende Entscheidung erwartet?

DR. BARON: Eine Entscheidung hierüber hängt nicht allein von der Bundesregierung ab, sondern es geht letztlich auch um Investitionsentscheidungen, die von Unternehmen zu treffen sind. Die Frage, die die Bundesregierung beantworten muss, ist: Was ist eventuell nötig, damit es diese Investitionsentscheidungen gibt? Ich hatte hier auch schon einmal ausgeführt, dass es bestehende Instrumente der regionalen Strukturförderung gibt. Das ist ein Baustein. Man muss eben genau schauen, ob es ausreichend ist oder nicht. Aber ich muss um Verständnis dafür bitten, dass ich hier auf Details momentan nicht eingehen kann.

FRAGE JUNG (zu Nord Stream 2): Ich will auch noch eine Frage zum vorläufigen Stopp des Zertifizierungsverfahrens stellen. Unter welchen Bedingungen könnte es denn wieder aufgenommen werden?

DR. BARON: Die Rechtslage ist diesbezüglich sehr eindeutig. Das hat die Bundesnetzagentur gestern noch einmal bestätigt. In dem Zertifizierungsverfahren der Bundesnetzagentur werden zwei Stränge geprüft. Die Bundesnetzagentur prüft sozusagen die gesellschaftsrechtliche Seite: Ist eine Entflechtung von Netz und Betrieb gegeben? Daneben ist Teil des Zertifizierungsverfahrens, dass die Bundesregierung einen Versorgungssicherheitsbericht bzw. eine Versorgungssicherheitsanalyse vornimmt, in der geprüft wird, ob eine Inbetriebnahme oder Zertifizierung dieser Leitung die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa gefährden würde. Dieser Bericht ist notwendiger Verfahrensbestandteil. Solange es diesen Bericht nicht gibt und solange er nicht abgeschlossen ist, kann es also keine positive Zertifizierungsentscheidung geben.

ZUSATZFRAGE JUNG: Aber den gab es ja bisher auch nicht, und darum wurde Nord Stream 2 ja bisher auch nicht gestoppt. Das ist ja jetzt nur wegen dem russischen Agieren passiert. Darum noch mal die Frage.

Herr Hebestreit, wenn ich darf, Sie hatten wie die Vorgängerregierung immer wieder betont, dass Nord Stream 2 ein wirtschaftliches Projekt sei. Herr Habeck hat heute gesagt, dass Energiepolitik und damit Nord Stream 2 aber auch immer Sicherheitspolitik und geopolitisch zu beurteilen sei.

Sieht der Kanzler das mittlerweile auch so?

STS HEBESTREIT: Ich glaube, ich habe hier und von dieser Stelle aus nie von einem rein wirtschaftlichen Projekt gesprochen. Aber natürlich sieht es der Bundeskanzler auch so, der diese Entscheidung ja gestern verkündet und gemeinsam mit Herrn Habeck getroffen hat.

Ich darf Sie korrigieren: Es gab diesen Versorgungssicherheitsbericht. Die vorangegangene Bundesregierung hat ihn im Herbst vorgelegt. Er ist allerdings unter anderen auch geopolitischen Kautelen getroffen worden. Deswegen gab es gestern hinreichend Gründe zu sagen: Man zieht ihn jetzt zurück, weil sich die Lage verändert hat. An eine veränderte Lage muss man sich anpassen.

Vielleicht in Ergänzung auf Ihre Frage, wann denn das Zertifizierungsverfahren fortgesetzt werden könnte: Eine solche Analyse kann am Ende auch dazu kommen, dass man sagt: Ein solches Projekt gefährdet die Versorgungssicherheit. Dann fehlt, obwohl der Bericht abgeschlossen ist, eine Grundlage für eine weitere Zertifizierung.

Das alles ist hypothetisch und Spekulation. Aber es geht jetzt nicht, einfach abzuwarten und zu sagen: Jetzt prüft man drei Monate, und dann kommt man zu dem gleichen Ergebnis.

DR. BARON: Genau. Ich glaube, die Fragen sind damit beantwortet.

VORS. WOLF: Die Kollegin Jennen von Bloomberg fragt: Wieso wurde Nord Stream 2 nicht in das EU-Sanktionspaket mit einbezogen?

STS HEBESTREIT: Ich wüsste nicht, wieso es darin einbezogen werden sollte.

FRAGE KURMAYER: Die deutsche Wirtschaft, also auch die Stromversorgung wird noch Extrakapazität von Gaskraftwerken brauchen. Jetzt war in der Planung zumindest zum Teil eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 eingeplant.

Gefährdet der Zertifizierungsstopp den Gaskraftwerkausbau, den Deutschland in den Übergang auf hundert Prozent Erneuerbarer offensichtlich braucht?

DR. BARON: Diese Fragen sind voneinander zu trennen. Das eine ist die Zertifizierungsfrage. Das andere ist die Frage des Gasmarktes. Es ist klar vorgezeichnet, dass es auf dem Weg hin zu Klimaneutralität zu einem bestimmten Zeitpunkt natürlich auch keine Gaskraftwerke mehr geben kann. Diese Übergangszeit gilt es zu gestalten, und es ist ja das Ziel der gesamten Bundesregierung, hier eben nicht nur die Frage von Gas zu adressieren, sondern eben auch den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzubringen. Das ist ja gerade das, was wir jetzt für das sogenannte Osterpaket vorbereiten, um eben auch diesen Weg weitergehen zu können, sodass es dann den Übergang zur Klimaneutralität im Stromsektor geben kann.

ZUSATZFRAGE KURMAYER: Heißt das, eine etwaige Verknappung von Gaslieferungen an Deutschland spielt keine Rolle im Hinblick auf den Ausbau der Gaskraftwerkkapazitäten, die laut allen Strombedarfsberechnungen in den kommenden Jahren zusätzlich gebraucht werden?

DR. BARON: Für eine Übergangszeit wird es Gaskraftwerke brauchen, das ist völlig klar. Natürlich muss die Frage immer vor dem Hintergrund ausreichender Kapazitäten beantwortet werden, aber beides muss zusammen gedacht werden: Wir brauchen den Ausbau der erneuerbaren Energien und wir brauchen Gaskraftwerke für eine Übergangszeit. Unser Anliegen ist aber klar, nämlich durch die Beschleunigungsmaßnahmen, die wir mit dem Osterpaket planen, gerade den Ausbau erneuerbarer Energien voranzubringen und die Energieeffizienz zu steigern, um eben den Weg zur Klimaneutralität gehen zu können.

FRAGE GAVRILIS: Herr Hebestreit, Sie meinten vorhin, das Verfahren zu Nord Stream 2 werde dauern. Können Sie das ein bisschen konkretisieren? Rechnet die Bundesregierung hier mit Wochen, Monaten, Jahren? Wovon gehen Sie aus?

STS HEBESTREIT: So richtig konkretisieren möchte ich das nicht, aber ich rechne nicht in Wochen.

VORS. WOLF: Dann erweitere ich das Themenfeld einmal ein bisschen, bleibe aber bei diesem Konflikt. Der Kollege Rossmann von der „Süddeutschen Zeitung“ fragt, vermutlich an das Innenministerium gerichtet: Sie haben angekündigt, Nachbarländer der Ukraine, vor allem Polen, massiv zu unterstützen, sollte es zu Fluchtbewegungen kommen. Welche konkrete Unterstützung plant die Innenministerin? Erwartet die Bundesregierung, dass auch Deutschland bei einer größeren Invasion zu einem wichtigen Fluchtziel wird?

KALL: Dazu kann ich erst einmal sagen, was die Bundesinnenministerin selbst gesagt hat: Wir verfolgen sehr aufmerksam, ob es Fluchtbewegungen in unsere Nachbarländer geben wird. Im Moment sehen wir noch keine großen Fluchtbewegungen außerhalb der Ukraine. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission, gemeinsam mit dem UNHCR, der IOM und natürlich den anderen EU-Mitgliedstaaten beobachten wir die Lage aber sehr, sehr aufmerksam und bewerten sie auch laufend neu.

Wir werden unsere Nachbarländer, vor allem Polen das hat die Bundesinnenministerin gestern gesagt , massiv unterstützen, sollte es zu starken Fluchtbewegungen nach Polen oder in andere Nachbarstaaten kommen. Das betrifft insbesondere die humanitäre Unterstützung. Im Bereich der humanitären Unterstützung gibt es das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren, das von der Europäischen Kommission koordiniert wird, und in diesem Rahmen würde es dann um ganz konkrete Hilfsmaßnahmen gehen. Es ist heute aber noch zu früh sind, diese Maßnahmen zu benennen; denn die Lage ist ja, wie Sie alle wissen, sehr dynamisch.

BURGER: Ich würde gerne kurz noch einen Satz ergänzen, nämlich dass es just in diesem europäischen Verfahren schon sehr konkrete Überlegungen und Abstimmungsprozesse gibt, um darauf vorbereitet zu sein.

VORS. WOLF: Der zweite Teil der Frage war: Rechnet die Bundesregierung damit, dass Deutschland bei einer größeren Invasion zu einem wichtigen Fluchtziel wird?

KALL: Auch das ist heute jedenfalls aus Sicht des Bundesinnenministeriums noch nicht seriös abschätzbar, aber natürlich sind wir auf denkbare Szenarien vorbereitet und natürlich sind wir darüber auch mit den Ländern im Kontakt, was Aufnahmekapazitäten angeht. Von unseren europäischen Nachbarn, den EU-Mitgliedstaaten einschließlich der baltischen Staaten, wissen wir, dass sie sich auf mögliche Migrationsbewegungen intensiv vorbereiten und dass sie auch ihrerseits Aufnahmebereitschaft signalisiert haben, insbesondere im Rahmen von Nachbarschaftshilfe, von gelebter Solidarität mit der Ukraine und von humanitärer Unterstützung. Wie Herr Burger gerade noch einmal gesagt hat: Mit all diesen Staaten und vor allen Dingen mit der Europäischen Kommission, was die Koordination angeht, sind wir in engem Kontakt.

VORS. WOLF: Der Kollege Kain von der „BILD“ fragt zu möglichen Beratern bzw. Vermittlern im Russland-Konflikt: Die Ehefrau von Altbundeskanzler Schröder, So yeon Kim-Schröder, hat gestern auf Instagram bekannt gegeben, dass Schröder mit Putin als Vermittler reden würde, wenn die Bundesregierung das ernsthaft wolle. Wird die Bundesregierung dieses Angebot annehmen und Schröder als Vermittler in dem Konflikt einsetzen?

Er fragt auch, inwiefern die Altbundeskanzlerin Merkel als Vermittlerin tätig werden könnte. 51 Prozent der Deutschen sprechen sich in einer INSA-Umfrage genau dafür aus.

STS HEBESTREIT: Ich glaube, darüber, welche Kanäle wir nach Moskau verfügen und welche Kanäle wir dafür nutzen wollen, gebe ich hier keine Auskunft auch nicht über Instagram.

FRAGE JESSEN: An das Auswärtige Amt: Herr Burger, ist die Beobachtermission oder OSZE entlang der Demarkationslinie nach den Entscheidungen Putins obsolet geworden? Wird sie fortgesetzt oder macht das alles jetzt keinen Sinn mehr?

BURGER: Aus unserer Sicht erfüllt die Mission da nach wie vor eine sehr wichtige Funktion, nämlich Transparenz herzustellen, was auch ganz konkret für die Sicherheit der Menschen in der Nähe der Kontaktlinie lebenswichtig sein kann. Deswegen unterstützen wir diese Mission weiter.

ZUSATZ JESSEN: Danke. Wenn ich an Herrn Hebestreit noch eine kleine Bemerkung machen darf: Sie sagten vorhin, sie hätten Nord Stream 2 nie als ein rein privatwirtschaftliches Projekt bezeichnet. Das mag für Sie als Person zutreffen. Ihr Kollege Herr Büchner hat hier aber am 20. Dezember erklärt, und zwar im Namen des Bundeskanzlers, es handele sich um eine privatwirtschaftliche Angelegenheit, die auch weitgehend abgeschlossen sei, ohne politische Implikationen.

STS HEBESTREIT: Sie haben da völlig recht, Herr Jessen, aber wenn Sie mich richtig zitiert hätten Ich habe gesagt: Ich habe an dieser Stelle nie davon gesprochen. Herr Jung hatte das auf mich bezogen, und da wollen wir doch irgendwie fair miteinander umgehen, oder? Ich hatte übrigens, glaube ich, in meinem Ansatz auch gesagt, dass der Bundeskanzler an einer Stelle sehr wohl von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen gesprochen hatte. Da wollen wir doch nett zueinander bleiben.

FRAGE DR. RINKE: Ich habe noch eine Nachfrage zu Herrn Schröder und zu Frau Merkel. Sie haben jetzt gesagt, Sie wollen keine Auskunft geben über die Kanäle, aber das hat ja nicht wirklich die Frage des Kollegen beantwortet, ob Sie diese beiden Personen fragen oder um Hilfe bitten bei den Kontakten nach Moskau. Deswegen würde ich diese Frage wiederholen wollen.

STS HEBESTREIT: Auch nach längerem Nachdenken würde ich bei meiner Antwort bleiben wollen.

ZUSATZFRAGE DR. RINKE: Dann noch eine Nachfrage zur OSZE: Herr Burger, Sie haben eben gesagt, dass Sie die Mission weiterhin unterstützen. Können Sie vielleicht sagen, wie das praktisch ablaufen kann? Denn mit einer vermuteten russischen Präsenz oder einem anderen Status dieser Region wird es ja wahrscheinlich nicht möglich sein, dass OSZE-Beobachter die Demarkationslinie noch einmal überqueren. Können Sie beschreiben, wie das überhaupt vonstattengeht? Wird eine Beobachtung in der Zukunft nur von der ukrainischen Seite her stattfinden?

BURGER: Den tagesaktuellen Stand dazu kann ich Ihnen nicht mitteilen, da müssten Sie sich bitte an die OSZE selbst wenden. Ich kann hier ja nur für die Politik der Bundesregierung sprechen, und die besteht darin, diese Mission weiterhin zu unterstützen, weil wir diesen Auftrag nach wie vor für wichtig halten.

VORS. WOLF: Die Kollegin Timofeeva von RIA Novosti fragt: Eine Vertreterin des russischen Außenministeriums habe gestern gesagt, dass Moskau den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland eine Sammlung von Materialien über Massengräber und Gräueltaten im Donbass geschickt habe. Haben Sie diese Materialien bekommen und können Sie das kommentieren?

BURGER: Vielleicht noch einmal zu diesem ganzen Themenkomplex: Wir haben die russischen Äußerungen der vergangenen Tage mit Vorwürfen eines angeblichen Genozids mit Unverständnis zur Kenntnis genommen und wir weisen das auch in aller Deutlichkeit zurück. Aus Sicht der Bundesregierung weist nichts darauf hin, dass im Donbass ein Völkermord stattfindet oder stattgefunden hat. Das sehen auch sehr viele unabhängige Beobachter so. Die OSZE-Sonderbeobachtungsmission, die im Übrigen in der ganzen Ukraine tätig ist, hat dafür keinerlei Hinweise gemeldet. Auch internationale Menschenrechtsorganisationen sind in der Vergangenheit solchen Hinweisen nachgegangen, und niemand von ihnen ist zu dem Schluss gekommen, dass es Hinweise auf solchen Genozid gäbe.

Aus unserer Sicht ist der richtige Weg, wenn man solche Vorwürfe erhebt, umfassende Transparenz herzustellen. Das geschieht nicht dadurch, indem man angebliches Beweismaterial, Fotos, die nicht überprüfbar sind, im bilateralen Kontakt an eine andere Regierung schickt. Der richtige Weg dazu ist vielmehr, Transparenz herzustellen, unabhängige Beobachterinnen und Beobachter einzuladen, denen das Material, die Zeugen, den Zugang zu den Orten zu gewähren, sodass auf unabhängiger Basis über solche Fragen Einschätzungen abgegeben werden können.

VORS. WOLF: Kollegin Reifenrath vom ARD-Hauptstadtstudio fragt, ob die Ukraine mittlerweile Hilfskredite beantragt habe und ob Sie konkretisieren können, an welche Investitionen diese Kredite geknüpft sind.

STS HEBESTREIT: Wir haben diese Frage hier schon am Montag, glaube ich, behandelt. Da habe ich gegenüber Montag keinen neuen Stand, und insofern, glaube ich, gibt es den auch nicht akut.

FRAGE KURMAYER: Ich möchte noch einmal die Frage zum Thema Regress im Sinne des Energy Charter Treaty aufgreifen: Sehen Sie es potenziell als Verletzung des Fair-and-equitable-treatment-Prinzips an, dass eine bereits erfolgte Entscheidung bzw. ein bereits erfolgter Bericht über die Versorgungssicherheit mehr oder weniger ad hoc zurückgenommen wurde? Sehen Sie das Potenzial, dass dieser Vertrag wieder einmal als Klagegrund gegen die Bundesregierung genutzt werden könnte, zum Beispiel von Uniper?

DR. BARON: Nein, das sehe ich nicht. Noch einmal: Wir befinden uns in einem Zertifizierungsverfahren und sind einen Verfahrensschritt gegangen. Es gab einen vorhandenen Bericht, die Sach- und Rechtslage hat sich aber an allen Punkten verändert: bei der Frage Preise, bei der Frage Mengen, bei der Frage Sicherheit insgesamt mit der Eskalation der Ostukraine. Deshalb ist es nach unserer juristischen Einschätzung sogar zwingend geboten, bei einer Änderung der Sach- und Rechtslage den Versorgungssicherheitsbericht anzupassen und neu zu bewerten.

ZUSATZFRAGE KURMAYER: Auch im Fall von Vattenfall wurden im Rahmen einer bestehenden Prozessgestaltung aufgrund sich ändernder Umstände Änderungen vorgenommen, aber der Konzern konnte damals erfolgreich gegen Hamburg vorgehen. Sehen Sie Parallelen zwischen diesen beiden Fällen?

DR. BARON: Nein, ich sehe diese nicht, weil wir uns hier wie gesagt noch in einem laufenden Verfahren befinden und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Das Zertifizierungsverfahren hat ja Verfahrensschritte, die wir gegangen sind, und wir haben uns eben entschieden, diese zurückzuziehen. Insofern kann ich dies hier nicht sehen.

BURGER: Ich hätte noch einen Nachtrag zu der Frage nach angeblich von Russland übersandten Dokumenten, die mir davor gestellt wurde; da wurde ich daran erinnert, dass ich diese Frage in der Sache noch nicht beantwortet hatte. Nein, wir haben solche Dokumente von russischer Seite noch nicht erhalten.

FRAGE LEHMANN: An Herrn Hebestreit zum Normandie-Format: Ursprünglich waren ja für März neue Gespräche angesetzt. Gilt das noch, stehen diese Gespräche noch auf der Tagesordnung, oder sind sie inzwischen gecancelt?

Vielleicht noch eine Nachfrage zu Merkel/Schröder: Kann man das Nichtdementi denn so deuten, dass versucht wird, alle Gesprächskanäle formell oder informell nach Moskau offenzuhalten?

STS HEBESTREIT: Beim Normandie-Format ist das Treffen auf Ebene der Unterhändler ausgemacht worden. Da sollte es ein vorgeschaltetes Treffen geben, nämlich der Trilateralen Kontaktgruppe, die tagen sollte. Im Augenblick sehe ich nicht, dass das passiert; insofern ist das auch „in limbo“. Trotzdem ist, glaube ich, an dieser Stelle und auch angesichts der Entwicklungen der letzten Tage ganz wichtig das haben der Bundeskanzler, aber auch der amerikanische Präsident und auch der französische Präsident immer deutlich gemacht : Wir müssen versuchen, die diplomatischen Initiativen weiter am Laufen zu halten. Es gilt ja noch, eine Verschlechterung der Situation zu verhindern und weiter Deeskalation zu betreiben, und dazu wäre das Normandie-Format ein mögliches Format. Das muss natürlich ernsthaft gemeint sein und es sollte auch nicht mit zu hohen Forderungen insbesondere seitens Russlands da hat es gestern, glaube ich, eine Äußerung des russischen Präsidenten gegeben behaftet sein. Das wäre aber ein Format, um auch darüber zu reden auch wenn natürlich durch die jüngsten Entwicklungen die Grundlagen des Minsker Abkommens einseitig seitens Russlands aufgekündigt worden sind. Es bleibt aber bestehen als ein wichtiges Format, in dem die Ukraine und Russland gemeinsam mit Deutschland und Frankreich auf Grundlage eines auch vom russischen Präsidenten unterzeichneten Abkommens sprechen könnten.

Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe diesbezüglich in anderer Hinsicht zu einem Kollegen einmal von Topfschlagen geredet. Die Tatsache, dass es kein Dementi gibt, so zu interpretieren, wäre falsch. Ich sage hier nicht, wen die Bundesregierung womöglich beauftragen würde. Aber nur, weil Sie mir nicht 83 Millionen Personen nennen könnten und ich bei einer dann Ja und bei 82 999 999 Nein sage Vielleicht so viel: Bei beiden Personen habe ich bislang keinerlei Erkenntnisse, dass sie zu einer solchen Rolle auserkoren worden sind.

BURGER: Ich will vielleicht noch einmal ergänzen: Wir verfügen über hinreichend Gesprächskanäle zur russischen Seite. Woran es im Moment mangelt, ist eine ernsthafte Bereitschaft der russischen Seite, in der Sache zu sprechen. Im Gegenteil, der russische Präsident hat gestern noch einmal weitere Maximalforderungen aufgestellt. Wenn es eine solche Gesprächsbereitschaft von russischer Seite gibt, dann haben wir alle Gesprächskanäle, die wir brauchen, um ernsthafte Gespräche in der Sache zu führen. Dass es die Bereitschaft dazu gibt, haben wir immer sehr deutlich gemacht. Genau dasselbe hat die Außenministerin gerade auch in ihrer Pressekonferenz mit dem französischen Außenminister noch einmal unterstrichen.

FRAGE JUNG: Vielleicht noch einmal ein kleiner Seitenaspekt: Herr Hebestreit und gegebenenfalls Herr Burger, haben der Kanzler und die Außenministerin diese Sicherheitsratsshow am Montag verfolgt? Das wurde von der russischen Seite ja so verkauft, dass die live im Fernsehen übertragen worden sei, aber das wurde offenbar schon vorher aufgezeichnet. Wie bewerten Sie diese russische Propagandashow?

STS HEBESTREIT: Der Bundeskanzler hat sie nicht komplett live verfolgt, aber er hat Teile davon, Ausschnitte davon gesehen, und er hat sich auch die Rede des russischen Präsidenten, die dann ja sehr umfänglich über Fernsehen ausgestrahlt wurde, in Teilen angeschaut. Aber beurteilen Ich glaube, das spricht für sich selbst.

ZUSATZFRAGE JUNG: Herr Burger?

BURGER: Die Außenministerin hat sich dazu gestern selbst in Paris geäußert und hat gesagt, was sie von dieser Rede hält. Sie hat von einer desaströsen Rede gesprochen, die schlimme Befürchtungen bestätigt hat, von Verachtung für das Völkerrecht und für die Souveränität der Ukraine.

ZUSATZ JUNG: Mir ging es nur um die Show davor, in der er jedes einzelne seiner Sicherheitsratsmitglieder vor die Kamera gezerrt hat.

BURGER: Die Außenministerin hat Kenntnis davon.

VORS. WOLF: Herr Lücking fragt an das Verteidigungsministerium gerichtet noch einmal nach einer noch nicht beantworteten Frage vom Freitag: Welches Produktionsunternehmen produzierte die letzten Instagram-Spots, die nach Angaben des Verteidigungsressorts versehentlich zeitversetzt statt zeitgleich gesendet wurden? Können Sie dazu an dieser Stelle etwas sagen? Das war Teil einer Bitte um Nachreichung.

COLLATZ: Nach meiner Kenntnis ist die Nachreichung erfolgt. Zumindest hat Herr Lücking auch schriftlich nachgefragt und hat dann schriftlich etwas bekommen. Ich kann das aber gerne auch hier an dieser Stelle beantworten: Es handelt sich um eine Eigenproduktion.

VORS. WOLF: Herr Lücking fragt weiter: Verteidigungsministerin Lambrecht hat angekündigt, Truppenverstärkungen durch die Bundeswehr in Litauen zu prüfen. Zeitgleich mahnt sie, es würden weitere Mittel benötigt. Sind im Kabinett kurzfristige Erhöhungen des Verteidigungsetats diskutiert worden?

COLLATZ: Diesen Zusammenhang würde ich so nicht bilden. Selbstverständlich prüfen wir, was im Rahmen des Bestandes möglich ist, um die gemeinsam beschlossene und im Bündnis auch angestrebte Verstärkung der Abschreckungsfähigkeit innerhalb des Bündnisses unter den Partnern zu verstärken. Das erfordert aber keine zusätzlichen Mittel, weil wir da natürlich aus dem jährlichen Etat arbeiten.

FRAGE DR. RINKE: Noch eine Frage an Herrn Hebestreit zu dem Sicherheitskabinett, das heute vertraulich getagt hat: Wurden Entscheidungen getroffen, selbst wenn Sie die jetzt hier nicht nennen können, und ist zu erwarten, dass die dann im Laufe des Tages noch publik gemacht werden?

STS HEBESTREIT: Wie Sie zu Recht sagen, tagt dieses Sicherheitskabinett vertraulich. Es ging hier ja um eine Information, eine Verständigung über die aktuelle Lage. Es hat aber keinerlei Entscheidungen gegeben.

VORS. WOLF: Es gibt eine Frage zum Themenkomplex Corona an das BMG. Der Kollege Meyer von dpa fragt: Sind die ersten Lieferungen des Impfstoffes von Novavax inzwischen im Bundeslager angekommen oder werden sie noch für heute erwartet?

EWALD: Es gilt das, was wir dazu auch Anfang dieser Woche kommuniziert haben: Der Auslieferungsprozess ist in Gang gesetzt, und wir erwarten, dass in der zweiten Wochenhälfte auch die Auslieferungen bei den Ländern ankommen.

VORS. WOLF: Eine weitere Frage des gleichen Kollegen: Hat das Kabinett heute auch die neuen Corona-Einreiseregelungen gebilligt? Greifen diese dann wie angekündigt am 4. März?

EWALD: Nein, das war heute nicht im Kabinett. Zu dem Thema selbst haben wir uns ja auch geäußert; mein Kollege hat dazu am Montag hier vorgetragen. Richtig ist, dass wir planen, dass die Verordnung am 4. März in Kraft treten wird.

FRAGE DR. RINKE: Ich hätte ganz gerne nach der Zahl der Toten gefragt, also nach den Menschen, die im Zusammenhang mit Corona und dem Virus gestorben sind. Die Zahl hat ja, wenn man den Wochenvergleich betrachtet, in den letzten Tagen wieder zugenommen. Sie lag vorgestern bei über 300, wenn ich das richtig sehe, und heute knapp darunter. Was ist aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums die Erklärung dafür, dass die Zahlen der Corona-Toten jetzt wieder nach oben gehen?

EWALD: Ich bitte um Nachsicht. Ich habe dafür keine eigene Interpretation anzubieten. Herr Lauterbach wird am Freitag hier zur Coronalage referieren und auch die epidemiologische Lage einordnen und erläutern. Ich würde vorschlagen, dass Sie am Freitag dem Minister die Frage unmittelbar stellen.

FRAGE: Können Sie erklären, was genau dazu geführt hat, dass die Einreiseverordnung jetzt geändert werden soll und welche Erleichterungen es konkret geben soll?

EWALD: Hintergrund ist eine Beschlusslage auf der Ministerpräsidentenkonferenz dazu. Es geht zum einen darum, dass Hochrisikogebiete nur noch ausgewiesen werden, wenn dort ein gefährliches Virus als Omikronvariante grassiert. Kinder unter 12 Jahren auch das haben wir schon öffentlich kommuniziert; das ist die MPK-Beschlusslage bekommen die Möglichkeit, sich nach Rückkehr aus Hochrisikogebieten direkt frei zu testen. Die Einstufung von Ländern als Virusvariantengebiet bleibt weiterhin für solche Gebiete vorbehalten, in denen eine neue Variante mit ganz besonders bedrohlichen Eigenschaften auftritt, zum Beispiel die weitgehende Umgehung des Impfschutzes.

Minister Lauterbach hat dazu bereits Folgendes erklärt:

„Kinder mussten viel verkraften in dieser Pandemie. Deshalb lockern wir die Einreisebestimmungen zu dem Zeitpunkt, da die aktuelle Omikronwelle ihren Zenit überschritten hat. Reisen für Familien wird dadurch leichter. Vorsichtig sollten sie trotzdem im Urlaub sein.“

FRAGE JESSEN: Eine Frage zum Pflegebonus. Herr Ewald, es gibt Berichte über die Eckpunkte des Eckpunktepapiers. Sind die insofern noch korrekt? Wann wird das eine offizielle Position des Gesundheitsministeriums?

EWALD: Sie wissen ja das sieht auch der Koalitionsvertrag vor , dass insgesamt eine Milliarde Euro für den Pflegebonus zur Verfügung stehen. Der Bonus soll auch das ist bereits öffentlich kommuniziert worden jeweils hälftig an die Pflegekräfte in der Langzeitpflege und im Krankenhaus ausgeschüttet werden. Die Details werden aktuell in der Koalition abgestimmt. Sobald wie möglich legen wir als BMG dazu eine Formulierungshilfe vor.

ZUSATZFRAGE JESSEN: Gehen Sie davon aus bzw. können wir davon ausgehen, dass das noch in dieser Woche stattfinden wird?

EWALD: Das kann ich nicht einschätzen. Das ist Gegenstand der laufenden Beratungen. Der Minister hat noch einmal betont, dass er anstrebt, dass das möglichst schnell umgesetzt wird. Ihm ist wichtig, dass der Pflegebonus gezielt denjenigen Pflegkräften zukommt, die in der Pandemie besonders belastet waren. Das muss als gesellschaftliche Anerkennung der Leistung gewertet werden, kann aber das ist auch wichtig natürlich den Einsatz nur unvollkommen würdigen. Deshalb hat der Minister mehrfach klargestellt, dass sich insbesondere die Arbeitsbedingungen in den Bereichen verbessern müssen.

VORS. WOLF: Der Kollege Beucker von der „taz“ fragt zum Thema Mindestlohn/Minijobs: Was sagt das Arbeitsministerium zu dem heute veröffentlichten Aufruf von Sozialverbänden und Gewerkschaften gegen die Anhebung der Hinzuverdienstgrenze?

GÖPNER-REINECKE: Konkret zu den eigentlichen Aktionen kann ich mich noch nicht äußern. Das ist sozusagen noch nicht bei mir gelandet.

Generell ist es richtig, dass heute die Gesetzesänderung in Bezug auf die Geringfügigkeitsgrenze vom Kabinett verabschiedet wurde. Auch dazu hat sich Herr Hebestreit bereits geäußert. Ziel des Ganzen ist es, dass Minijobber von einem höheren Mindestlohn profitieren.

Das vorrangige Ziel der Bundesregierung ist es aber, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu fördern. Es ist auch im Gesetz festgehalten, dass der Übergang in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtert wird.

FRAGE JUNG: Ich habe noch eine Frage zum Mindestlohn. Es gibt ja seit Jahren, seit Jahrzehnten die Kritik, dass der Mindestlohn nicht für Menschen mit Behinderungen in Behindertenwerkstätten gilt. Ändern Sie das jetzt? Es geht um ca. 300 000 Menschen, die aktuell einen Hungerlohn bekommen.

GÖPNER-REINECKE: Ich würde vorab die Anmerkung machen wollen, dass die Menschen, die in den Behindertenwerkstätten arbeiten, sehr wichtige Aufgaben übernehmen und diese Werkstätten ein Ort sind, wo Menschen mit Behinderungen zusammenkommen, lernen und auch ihren Teil zur Gesellschaft beitragen. Richtig ist aber, dass dieses historisch gewachsene Entgeltsystem, das in den Werkstätten gilt, für viele Werkstattbeschäftigte, aber auch natürlich für Menschen außerhalb der Werkstätten nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Deshalb wird aktuell geprüft, wie ein transparentes, nachhaltiges und auch zukunftsfähiges Entgeltsystem entwickelt werden kann. Es gibt ein Forschungsvorhaben, das derzeit schon läuft. Ein Teil dieses Forschungsvorhabens ist die Analyse des Mindestlohns, den man hier aber nicht immer getrennt von anderen Leistungen bewerten darf, die für Werkstattbeschäftigte gelten.

Prinzipiell ist es aber so, dass laut Mindestlohngesetz bestimmte Gruppen keinen Mindestlohn erhalten. Das sind immer Gruppen, bei denen es nicht allein um das Arbeitsverhältnis geht, sondern wo es beispielsweise um Fragen der Rehabilitation, der Aus- und Weiterbildung oder auch der Integration in den Arbeitsmarkt geht.

ZUSATZFRAGE JUNG: Den Mindestlohn wird es nicht in Behindertenwerkstätten geben? Das war ja die Frage.

GÖPNER-REINECKE: Es gibt aktuell keine Änderungen. Ich habe ja auf das Forschungsvorhaben hingewiesen, das es gibt, um das Entgeltsystem der Werkstätten zu prüfen und weiterzuentwickeln.

VORS. WOLF: Die Kollegin Abbas von dpa fragt: Gibt es mittlerweile eine Einigung über den geplanten Kindersofortzuschlag? Wann werden Sie diesen Zuschlag auf den Weg bringen?

GÖPNER-REINECKE: Für den Kindersofortzuschlag ist das Familienministerium zuständig. Ich kann aber hier an der Stelle noch einmal sagen: Daran wird mit Hochdruck gearbeitet.

VORS. WOLF: Das Familienministerium ist heute nicht da, wie ich eingangs schon sagte. Deswegen bitte ich an dieser Stelle um eine Nachreichung dazu, wenn sie denn möglich ist.

Ich komme zu einer Frage an das Umweltministerium, auch von der Kollegin Abbas: Angesichts der Entwicklungen bei der Energiepreisen gibt es wieder Forderungen nach einer Verlängerung der Laufzeit der noch bestehenden Atomkraftwerke in Deutschland. Was halten Sie davon? Wären Laufzeitverlängerungen bei einer sich weiter zuspitzenden Lage denkbar?

SCHARF: Eine ausführliche Antwort würde ich an der Stelle an Frau Abbas nachreichen.

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die Bundesregierung zu ihren Beschlüssen in Sachen Nutzung der Atomkraftwerke zu Energiezwecken steht. Ich weiß nicht, ob Herr Hebestreit dazu noch etwas sagen möchte.

STS HEBESTREIT: Vielleicht kann ich ergänzen: Wir reden über drei Meiler, die noch am Netz sind und bis zum Jahresende vom Netz gehen sollen. Das ist jetzt keine riesige Reserve, die man da noch hätte. Ich glaube, alles Weitere hat das Umweltministerium gesagt.

FRAGE LEHMANN: Ich habe eine Frage zur heute berufenen Antirassismus-Beauftragten. Ist das mehr als Symbolpolitik? Wie hoch werden ihre Haushaltsmittel sein? Was werden ihre konkreten Aufgaben sein?

STS HEBESTREIT: Das muss ich leider nachreichen. Es tut mir leid. Dazu bin ich heute nicht sprechfähig.

FRAGE KURMAYER: Eine Frage im Kontext von EU-Sanktionen gegen Russland. Russland unterhält aktive Bauprojekte für Atomkraftwerke sowie finanzielle Hilfen für EU-Mitgliedsländer. Wird sich die Bundesregierung auf EU-Ebene für Sanktionen beispielsweise gegen Rosatom einsetzen?

STS HEBESTREIT: Wir sind ja jetzt gerade dabei, den ersten Schritt der Sanktionen zu beschließen. Das passiert in diesen Stunden. Für den Fall, dass sich die Situation in der Ukraine anders als gehofft entwickelt und es zu einer weiteren Eskalation kommt, werden weitere Schritte folgen. Die sind auch vorbereitet. Wenn sie dann beschlossen sind, kommunizieren wir sie. Sie wissen das.

Wir haben das als „strategische Ambiguität“ bezeichnet. Diese Ambiguität müssen wir noch bisschen zusammen aushalten. Wenn es nach mir ginge, müsste dieses Sanktionspaket nie gezogen werden, weil es nicht eskaliert. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es nach mir geht.

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