Nun ist sie frisch vorüber, die alljährliche Weihnachts- bzw. Neujahrszeit.
Oder, anders ausgedrückt: Die alljährliche Mahnung, dass man noch ältere Verwandte hat.
Mit Schuldgefühlen angehauchte Telefonate, denen pfeifende Ohren folgen.
Aber was soll’s: Oma, Opa, Tante, Onkel (wer auch immer) leben noch, das ist gut, und wenn ich in den Feiertagen mal wieder zu ihnen fuhr, ist auch das abgehakt. Aus familiärer Sicht kann ich somit sorgenfrei ins neue Jahr starten und mich wieder den wirklich wichtigen Themen meines Lebens zuwenden: beispielsweise den schwachsinnigen Neujahrsvorsätze, die eh nicht eingehalten werden, oder den Vergleichen im Freundeskreis, wer am meisten zugenommen hat.
Hier endet der halbironische Einstieg.
Im Seniorenheim hat man gelegentlich das Gefühl, die Angehörigen würden sich in dieser Zeit die Klinke in die Hand geben wollen. Manche Bewohner geraten richtig durcheinander, wenn sie plötzlich in einer Woche mehrere Besuche bekommen. An Demenz erkrankten Menschen fällt es schwer, sich wieder in die tägliche Routine einzufinden, wenn etwas „außergewöhnliches“ passiert. Das muss man wissen.
Okay, die Argumentation, dass die Oma sowieso Demenz hat und den Besuch eh wieder vergessen wird, ist in gewisser Weise auch nachvollziehbar. Dennoch sollten wir uns der Frage stellen, ob bei einer solchen Argumentation nicht der Mensch an sich vernachlässigt wird und die Krankheit als Ausrede benutzt wird, um sich mit der eigenen Endlichkeit nicht auseinander setzen zu müssen.
Die Heime sind oft auch keine schönen Orte, wo man sich gerne aufhält. In den Fluren riecht es manchmal nach Urin und es läuft schreckliche alte Musik, bei denen die Ohren anfangen zu bluten. Man selbst kommt nach einigen Stunden – bei hastigen Besuchen auch nur Minuten – wieder raus. Die Bewohner erst, wenn sie ,„endlich drauf gegangen sind“. Diesen Satz habe ich mit eigenen Ohren von Heimbewohnern gehört. Das nennt man mal einen schönen und geborgenen Lebensabend, in einem der reichsten Länder der Welt!
Die Arbeit im Seniorenheim zeigt mir jedes Mal aufs Neue, dass den demenziell veränderten Bewohnern ihre Situationen in gewisser Weise bewusst sind.
Zum Beispiel ist die größte Angst von Frau S., dass sie ihren Sohn irgendwann nicht mehr erkennen wird. Sie ist eine sehr freundliche Frau, bei der die Demenz schon recht fortgeschritten ist. Sie läuft durch die Flure und ruft nach ihrer Mutter. Nicht selten beginnt sie, bitterlich zu weinen, ohne einen Grund nennen zu können. Noch erkennt sie ihren Sohn, aber eine halbe Stunde nach seinem Besuch hat sie schon wieder vergessen, dass er da war. Wenn man ihr jedoch sagt, er sei da gewesen und ihr vielleicht auch ein Foto, Schokolade oder einen Brief zeigt, den er mitgebracht hat, ist ihr glückliches Lächeln und das hoffnungsvolle Weiten ihrer Augen mit der Aussage: „Ach wirklich?“ herzerwärmend.
Wir sollten von unserem „Weihnachtstaumel“ oder der kurzen Stichflamme der Verantwortungsgefühle wie auch der fragwürdig gepredigten Nächstenliebe etwas mit ins gesamte Jahr nehmen.
Menschen in den Seniorenheimen sehen jeden Tag dieselben Personen, wobei der Großteil nicht einmal Zeit für eine zwischenmenschliche Beziehung aufbringen könnte. Den meisten Bewohnern sind die Verwandtenbesuche der einzige Hoffnungsschimmer. Wobei manche gar keinen Besuch bekommen, außer halt an Weihnachten.
Erst an ihrem Grab werden dann Aussagen getroffen wie: „Ach, wäre ich mal öfters hingegangen.“ Oder: „Wäre ich doch nicht so verbissen sinnlosen Zielen hinterhergerannt sondern hätte mir stattdessen einen guten Rat bei Oma geholt, den ich jetzt nie wieder bekommen werde“. Ganz zu schweigen von Vorwürfen zwischen Familienangehörigen nach dem Muster: „Du warst ja nie da und ich immer“
Ich meine damit nicht, dass man sich zwangsläufig immer melden muss. Wenn man mit Familienangehörigen nicht klarkommt oder sie einem nicht gut tun, steht es uns frei, diese familiären Fäden zu zerschneiden. Jedoch ist dieses :„Hätte ich doch…“ ein Satz, denn wir JETZT noch aus dem zukünftigen Vokabular, soweit es die Familie betrifft, streichen könnten.
Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns einen festen Tag im Monat aussuchen, an dem wir einen Brief schreiben, einen Besuch machen oder einfach anrufen. So würden die zukünftigen Gespräche auch abwechslungsreicher, da die Angehörigen nicht immer auf dem nicht abgeschlossenen Studium oder dem kinderlosen Dasein herumreiten werden. Durch den konstanteren Austausch kommen ganz andere Gespräche zustande und vielleicht hören wir sogar wirklich gute Ratschläge.
Lasst uns unseren faltigen und älteren Ichs ein bisschen von der Aufmerksamkeit, die sie uns in unserer Kindheit geschenkt haben, zurückgeben.
Anmerkung Redaktion: Rosa ist 20 Jahre alt, Auszubildende zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und arbeitet zusätzlich als Pflegerin im Seniorenheim. An dieser Stelle wird sie ab sofort regelmäßig über ihre Erfahrungen im Beruf und in der Gesellschaft schreiben.